Paul McCartney

“Mit den Wings habe ich den Beatles-Kram gemieden. Die Auflösung der Beatles war noch relativ frisch und schmerzvoll, ein bisschen wie eine Scheidung. Und so lag es gewissermaßen einfach nicht nahe, die Songs der Ex-Frau zu singen. Jeder von uns hatte unabhängig voneinander das Gefühl, nach den Beatles ein neues Leben zu beginnen. Nun denke ich diese Phase hinter mir zu haben, so dass ich die Songs der Beatles nicht länger verleugnen brauche. Das ist eine große Befreiung.”

“Eine Wiedervereinigung der Beatles? Die einzige Möglichkeit, wieder zusammenzukommen, wäre der gemeinsame Wunsch, musikalisch wieder etwas zu machen. Niemals eine halbherzige Sache des Geldes wegen. Da würde ich mich ganz bestimmt nicht erpressen lassen. Das würde mein Bild der Beatles zerstören.”

Der von Paul McCartney selbst am 10. April 1970 vollzogene Schlussstrich unter das Kapitel “The Beatles” stürzte ihn in eine schwere persönliche Krise. Schließlich war er es, der mit letzter Energie versucht hatte, sprichwörtlich das Schiff am Sinken zu hindern. Doch auch McCartney musste einsehen, dass die Wege künftig getrennt fortgesetzt werden müssen. Zwar hatte er schnell ein im Alleingang zusammengezimmertes Soloalbum am Start, doch die Leere in ihm machte aus dem Workaholic einen verbitterten Typen, der zu lange schlief und zu viel trank. Sowohl Lennon als auch McCartney waren mit starken Frauen verheiratet, so dass es Linda McCartney war, die ihrem Mann den nötigen “Tritt in den Hintern” gab.

Nach zwei mehr oder minder in Eigenregie entstandenen Alben formierte Paul McCartney 1971 mit den Wings eine neue Gruppe, deren Frontmann er zwar darstellte, dennoch darum bemüht war, die Persönlichkeiten seiner musikalischen Mitstreiter in die Aufnahmen und in die Gesamtpräsenz der Gruppe einfließen zu lassen. Relativ unbekümmert und gewiss auch mit einer “Wir gegen den Rest der Welt”-Einstellung meisterte das Ehepaar McCartney etliche Anfangsschwierigkeiten. Besonders die Tatsache, dass Paul McCartney seine Frau Linda als Nicht-Musikerin in die Band holte, sorgte lange Zeit für Spott und Häme (Mick Jagger: “I wouldn’t take my old lady on the road.”). 1972 gaben die Wings noch unangekündigte Konzerte in Universitäten des Vereinigten Königreichs, doch nur vier Jahre später hatte sich die Band zu einem der erfolgreichsten Acts des Musikbusiness entwickelt. Kurz zuvor erschien der Meilenstein “Band On The Run” – ein Album, das unter widrigen Umständen in Nigeria entstand.

So hatte Paul McCartney das geschafft, was ihm niemand zutraute und was auch im Bereich der Rock- und Popmusik ohne Beispiel ist: Er hatte nach dem Weltruhm der Beatles eine zweite, eigenständige Band zum Status einer Supergruppe geführt. Doch je länger der Bestand der Wings währte, desto mehr potenzierten sich die Probleme. Das äußerst erfolgreiche Wings Line-Up der Welttournee 1975/76 zerbrach. Immer wieder gab es Umbesetzungen und auch Paul McCartney selbst war der Album-Tour-Album-Tour-Tretmühle müde geworden. Zudem war nicht zu übersehen, dass ein großer Teil der Fans in die Konzerte kam, um “Beatle Paul” zu sehen. Das gefiel weder Paul McCartney noch seinen Bandkollegen. Als die Wings 1980 eine Konzertreihe in Japan geben wollten, nahm Paul McCartney leichtsinnigerweise einen Vorrat an Marihuana mit auf die Reise. Er wurde am Tokioter Flughafen festgenommen und verbrachte 10 Tage im Gefängnis. Die geplanten Konzerte fanden nie statt. Dieses unerfreuliche Erlebnis und sicher auch die Ermordung des alten Freundes John Lennon am Ende des Jahres brachten Paul McCartney 1981 dazu, nach 10 Jahren das Ende der Wings zu erklären.

Doch Paul McCartney wäre nicht er selbst, wenn er nun die Hände in den Schoß gelegt hätte. Schon 1982 veröffentlichte er mit “Tug Of War” ein Album, welches Kritik und Publikum überzeugen konnte. Es folgte eine höchst erfolgreiche Zeit, in der McCartney u.a. in Zusammenarbeit mit Stevie Wonder oder Michael Jackson die Spitzenpositionen der Charts belegte. Später ist Paul McCartney gar nicht mehr gut zu sprechen auf Jackson, der ihm die Rechte an dem Beatles-Songkatalog vor der Nase wegschnappte. 1984 entpuppte sich McCartneys Filmprojekt “Give My Regards To Broad Street” als grandioser Flop. Auch sein folgendes Album “Press To Play” blieb hinter den kommerziellen Erwartungen zurück.

1989 markierte nach zehn Jahren die Rückkehr zum Livemusiker. Nun als Solist mit Begleitmusikern unterwegs – und mit einem überzeugenden Album (“Flowers In The Dirt”) – unternahm McCartney bis 1993 zwei ausgedehnte und überaus erfolgreiche Welttourneen. Das begleitend zur 1993er “New World Tour” erschienene “Hope Of Deliverance” ist bis heute der einzige Titel, der die vordersten Plätze der Charts erreichte. Das Publikum der ausgehenden 90er Jahre und des beginnenden 21. Jahrhunderts ist ein anderes als in den zwei Jahrzehnten nach dem Ende der Beatles. Der Stammhörerschaft McCartneys gelingt es, dessen Alben (nur selten auch Singles) kurz in den Charts auftauchen zu lassen. Ungeachtet dessen veröffentlicht Paul McCartney von Zeit zu Zeit Alben von höchster Qualität, so zum Beispiel das vierfach Grammy-nominierte und von der Kritik einhellig als weises Alterswerk gepriesene “Chaos And Creation In The Backyard”.

Konzerte gibt es immer wieder, besonders erfolgreich und häufig durchgeführt in den USA. McCartney hat sich mit seiner Beatles-Vergangenheit ausgesöhnt und versteht sich als musikalischer Nachlassverwalter der Band. Er gibt dem Publikum, was es hören möchte: vorwiegend die Beatles-Evergreens, aber auch unbekanntere Songs, die die Beatles nie live gespielt haben. Die Stimme McCartneys hat hörbar gelitten, doch noch gelingt es ihm, die Allgemeinheit im Konzert zu überzeugen – auch wenn sich nicht wenige Fans wünschen, er möge in den Konzerten den Wings- und Solosongs mehr Beachtung schenken.

Ob er dabei erfolgreich ist oder nicht, Paul McCartney bleibt künstlerisch vielseitig interessiert und aktiv: In den letzten Jahren beschritt er Wege in der Klassik, im Bereich der elektronischen Musik, als bildender Künstler, als Dichter oder auch als Kinderbuchautor. Darüber hinaus engagiert der überzeugte Vegetarier sich für den Tierschutz (manchmal etwas zu vehement) oder zusammen mit seiner zweiten Ehefrau Heather Mills (Linda McCartney erlag 1998 einem Krebsleiden) für die Beseitigung von Landminen. Diese Verbindung stand jedoch nie unter einem guten Stern. Nach nur vier Jahren Ehe trennten sich die Beiden im Jahre 2006. Ihrer gemeinsamen Tochter Beatrice (geb. 2003) zuliebe sicherten sie sich eine Scheidung in Freundschaft zu. Doch die Angelegenheit entwickelte sich sowohl von Medienseite als auch direkt von den Beteiligten aus zu einer unschönen Schlammschlacht. Im März 2008 schließlich ist der Scheidungsprozess mit einer fürstlichen Abfindung für Mills abgeschlossen worden.

Auf diese Weise konnte die Musik nun wieder im Mittelpunkt stehen. Die letzten Studioarbeiten – ob es nun „echte“ Soloalben waren oder Projekte wie The Fireman – ernteten gute Kritiken. 2009 fand die letzte Deutschlandtournee statt. Es folgten drei internationale Konzertreihen, die McCartney oftmals an Orte führt, die er zuvor noch nie „bespielt“ hat. 2010 begann McCartney damit, im Rahmen der „Paul McCartney Archive Collection“ genannten Reihe Remasters seiner klassischen Alben zu veröffentlichen – sowohl in Versionen für den kleinen Geldbeutel als auch in opulenten Luxusausstattungen. Den Abschluss dieser Serie wird der Ex-Beatle möglicherweise selbst nicht mehr erleben.

Das private Glück besiegelte Paul McCartney 2011, als er die US-amerikanische Geschäftsfrau Nancy Shevell heiratete, mit der er seit Ende 2007 liiert war. Im Oktober 2013 erschien mit „New“ ein neues Rock-/Popalbum, das die guten Besprechungen der vorherigen Alben noch übertrumpfte. Paul McCartney ist nicht mehr der Weltklassesänger der 60er, 70er und 80er Jahre. Seine Stimme hat naturgemäß dem Alter Tribut zollen müssen. Die Anerkennung von Presse und Publikum gibt ihm jedoch Recht, und so bleibt er ein überaus aktiver und an vielen stilistischen Strömungen interessierte Musiker, der auch weiterhin Alben veröffentlichen und Konzerte geben wird.

Zum Schluss noch ein Bonmot. In Pressekonferenzen bevorzugt es Paul McCartney, über seine Musik zu sprechen. Doch eine Frage tauchte sogar nach dem Tod John Lennons immer wieder auf: Wann kommen die Beatles wieder zusammen? McCartney war es schließlich irgendwann leid, darauf zu antworten. Statt dessen dichtete er ein paar humorige Zeilen im Stil der Kampfansagen eines Muhammad Ali. Bei Bedarf schmettert er diesen den Journalisten entgegen:

“The Beatles split in ’69
And since then they’d been doing fine.
And if that question doesn’t cease
Ain’t no one gonna get no peace.
And if you ask it just once more
I think I’m gonna break your jaw.”