Tug Of War
Veröffentlicht: 26. April 1982
LP: EMI / Odeon 1C 064 – 64750 (Deutschland)
CD: EMI 0777 7 89266 2 7 (Digitally Remastered)
Titel:
Tug Of War / Take It Away / Somebody Who Cares / What’s That You’re Doing / Here Today / Ballroom Dancing / The Pound Is Sinking / Wanderlust / Get It / Be What You See (Link) / Dress Me Up As A Robber / Ebony And Ivory
In einem letzten Anlauf versuchten sich die Wings im Sommer und Herbst 1980 an Aufnahmen zu einer Nachfolge-LP von „Back To The Egg“. Zu diesem Zweck fanden sie sich in Finchden Manor ein, einem Anwesen in Tenterden in der Grafschaft Kent. Bootlegs von diesen Sessions präsentieren die Gruppe mit wenig Enthusiasmus und Spielfreude. Als Sammler fühlt man sich in gewisser Art und Weise an die „Let It Be“-Sessions erinnert, während derer sich die Beatles im Januar 1969 durch ihre Proben zu einem neuen Album quälen.
Zwischendurch beschäftigte sich Paul McCartney mit unterschiedlichen anderen Projekten, wie z.B. mit Soloaufnahmen seiner Frau Linda („Love’s Full Glory“), mit der Aufnahme eigener Demos von neuen Kompositionen, mit Aufnahmen für Ringo Starrs kommendes Album (siehe „Stop And Smell The Roses“) und mit den Sessions von „We All Stand Together“ (siehe „All The Best!“). Wie man es auch dreht und wendet: Paul McCartney schien gespürt zu haben, dass sich die Wings-Ära dem Ende zuneigte. Gewiss hatte er großartige Musiker in der Band, doch insgesamt war McCartney mit der Entwicklung der Wings unzufrieden (siehe auch „McCartney II“). Auf diese Weise verlagerte sich sein Interesse auf kreative Alleingänge. Das von George Martin produzierte „We All Stand Together“ stellt daher den Beginn einer neuen Ära dar: Paul McCartneys Rückkehr zum Solokünstler – unter den Fittichen des früheren Beatles-Produzenten.
Die Aufnahmen für „Tug Of War“ fanden im Dezember 1980 ihren Anfang. Es ist zwar bekannt, dass sich McCartney nach dem Mord an John Lennon erst recht in die Arbeit stürzte, doch die Sessions erfuhren eine gewisse Zäsur. So erfolgte er „offizielle“ Startschuss für die „Tug Of War“-Sessions Anfang Februar 1981. George Martin hatte zwei Jahre zuvor auf dem Karibik-Eiland Montserrat ein „AIR“ (Associated Independent Recordings) genanntes Aufnahmestudio eingerichtet. In den folgenden Jahren sollten an diesem exotischen Ort Meilensteine wie die Alben „Brothers In Arms“ (Dire Straits), „Synchronicity“ (The Police), „Behind The Sun“ (Eric Clapton) oder „Genesis“ (Genesis) entstehen. Zehn Jahre später allerdings, 1989, wurde das Studio durch den Hurricane Hugo zerstört. Paul McCartney kam es nicht ungelegen, in solch einer Umgebung durch die Musik den Tod des Mannes zu verarbeiten, der neben seinem Vater James und Gattin Linda die wichtigste Rolle in seinem Leben spielte.
Ein Blick auf die Liste der ersten aufgenommen Songs zeigt, dass mehr Titel eingespielt wurden, als das „Tug Of War“-Album enthält. Verkürzt ausgedrückt: „Tug Of War“ gilt gemeinhin als DAS Meisterwerk McCartneys aus den Achtziger Jahren, wenn nicht sogar die beste Leistung seiner ganzen Solokarriere. Aus dem „Ausschuss“ der Aufnahmen von Montserrat wurde das vergleichsweise schwache 1983er Nachfolgelalbum „Pipes Of Peace“ zusammengeschustert. In der Tat handelt es sich bei „Tug Of War“ um einen strahlenden Moment in Paul McCartneys Musikerlaufbahn. Aber auch hier müssen leichte Abstriche gemacht werden. Mehr dazu später.
Das Album trägt den Namen „Tug Of War“ (Tauziehen). Mit diesem Thema vorgegeben, beginnt der Titelsong mit der Geräuschkulisse eines Tauziehens – übrigens eine Originalaufnahme von den englischen Meisterschaften im Tauziehen 1981. Männer ächzen und stöhnen vor Kraftanstrengung und feuern sich gegenseitig an, bis dann schließlich Paul McCartney mit Gesang und akustischer Gitarre einsteigt. In „Tug Of War“ geht es um das Auf und Ab im Leben aus dem gereiften Blickwinkel eines fast 40-jährigen. Es wird beklagt, dass der Mensch ständig im Begriff ist, seinen Kontrahenten zu übertreffen statt gemeinsam und friedlich Ziele zu verwirklichen. Doch dies scheint eine ferne Welt zu sein, die der Komponist womöglich nicht mehr erleben wird:
„In years to come they may discover
What the air we breathe and the life we lead are all about.
But it won’t be soon enough, soon enough for me
No it won’t be soon enough
It won’t be soon enough, soon enough for me.
In another world
We could stand on top of the mountain with our flag unfurled.
In a time to come
We will be dancing to the beat played on a different drum.“
Bei freier Interpretation könnte man sogar vermuten, dass McCartney hier in seiner vorsichtigen Art auf das Kräftemessen der damaligen Supermächte USA und UdSSR anspielt. Schließlich befand sich die Welt Anfang der Achtziger Jahre auf einem Höhepunkt des Kalten Krieges. NATO-Doppelbeschluss und Einmarsch der Russen in Afghanistan schürten in vielen Menschen die Angst vor einem Dritten Weltkrieg. Musikalisch bewegt sich der Song „Tug Of War“ in den Bereichen der hymnischen Ballade. Hier und da wird der Song mit mächtigen, durch Mark und Bein gehenden Orchestereinschüben dekoriert und im Mittelteil erfolgt durch Powerakkorde der elektrischen Gitarren sogar ein Ausflug in die Gefilde des Stadionrock, bevor dann die Streicher wieder die Zügel anziehen. Musik und Text ergänzen sich auf hervorragende Weise. Ohne Zweifel befördert schon der Titelsong von „Tug Of War“ die kreative Messlatte für dieses Album auf eine beeindruckende Höhe und legt Zeugnis ab, wie gut das Team George Martin und Paul McCartney zusammenarbeiten kann.
Nahtlos geht es über zum flotten „Take It Away“. Diesen Song begann Paul McCartney zunächst in der Absicht, ihn Ringo Starr zu überlassen. Am Ende gewann McCartney jedoch die Überzeugung, dass „Take It Away“ besser zu ihm selbst passen würde. Nichtsdestotrotz ließ es sich Ringo Starr nicht nehmen, auf diesem Song Schlagzeug zu spielen. Und wie einst bei einigen Aufnahmen der Beatles (vgl. „In My Life“ oder „Money“) bediente George Martin die Tasten. Bei der späteren Nachbearbeitung in London ließ sich Paul McCartney von Eric Stewart unterstützen, der hauptsächlich für die beeindruckenden Gesangsharmonien verantwortlich war. Die Chor-Breitwand erinnert tatsächlich entfernt an „I’m Not In Love“, dem großen Hit von Stewarts Band 10CC. Doch spätestens „Take It Away“ zeigt auch die Schwäche von „Tug Of War“ auf, denn wenn man etwas bemängeln kann, dann ist es die arg glatt und zu perfekt geratene Produktion. Paul McCartney hat sich hiermit engültig von der nachwachsenden Generation von Rockstars in sein eigenes Reich abgesetzt. Auch das kunstvolle Bläserarrangement klingt eine Spur zu „erwachsen“.
Oft hat Paul McCartney seine stärksten Momente, wenn das instrumentale Arrangement auf ganz schlichte Mittel reduziert wird. So ist es auch bei der Akustikballade „Somebody Who Cares“, einem glänzenden Kleinod aus Melancholie und gleichzeitiger Zuversicht. Zu Unrecht ist dieser Song in der öffentlichen Wahrnehmung des McCartneyschen Solowerks missachtet worden. „Somebody Who Cares“ beginnt mit der Beschreibung des Gefühls das man hat, wenn man meint, nicht so recht vom Fleck zu kommen, die Grenzen des Erträglichen erreicht und niemanden in Aussicht zu haben, der einem hilft. Doch es gibt diesen Jemand, der sich sorgt, der zu einem hält, und die manchmal wie aus dem Nichts kommende Zuneigung und Hilfe bringt dann die Zuversicht mit sich, die man zuweilen so bitter nötig hat. Erneut ergänzen sich Musik und Text in vorzüglicher Weise und Paul McCartney brilliert mit einem Solo auf der Akustikgitarre, das gefühlvoller und melodischer kaum gespielt werden kann. „Somebody Who Cares“ ist mit einem Wort schlicht – meisterhaft. Nebenbei bemerkt: Dass Paul McCartney einen ganz speziellen Humor hat und in der Lage ist, außergewöhnliche Texte zu schreiben – auch das zeigt „Somebody Who Cares“. McCartney vergleicht das Gefühl der Ausweglosigkeit mit einer Situation, in der jemand einem die Reifen des PKW abmontiert hat, wenn man gerade im Begriff war, irgendwohin zu fahren:
„When your body is coming apart at the seams
And the whole thing’s feeling low you’re convincing yourself
That there’s nobody there, I know
I know how you feel.
Like somebody has taken the wheels off your car
When you had somewhere to go well it’s annoying
Not going to get very far I know
But somebody cares.“
Als nächster Song erweitert „What’s That You’re Doing“ das stilistische Spektrum des Albums. Dieses Funk-orientierte Stück schrieb Paul McCartney mit Stevie Wonder. Der Amerikaner war damals überaus erfolgreich, denn sein 1980er Album „Hotter Than July“ enthielt mit „Master Blaster (Jammin‘)“ und „Happy Birthday“ zwei riesige Singlehits. Nach Montserrat kan Stevie Wonder, um mit McCartney den späteren Nr. 1-Hit „Ebony And Ivory“ aufzunehmen. Doch es ist unter Musikern dieser Güte nicht ungewöhnlich, wenn sich aus den Sessions heraus unvorhergesehene Gemeinschaftswerke ergeben. Genau so verhielt es sich mit „What’s That You’re Doing“. McCartney und Wonder befanden sich in einer Jam-Session, als der blinde Soul-Star an einem eingängigen Keyboard-Riff hängen blieb. Im Endeffekt behielt „What’s That You’re Doing“ den Session-Charakter, obwohl die beiden Musiker eine ganze Nacht an dem Song arbeiteten. So ist dieser Song (neben „Get It“) eine erfrischende Abwechslung von den größtenteils perfektionistisch durchkonzipierten Songs von „Tug Of War“. Interessante Randnotiz: Am Schluss des Songs wird – ähnlich wie beim Ausklingen von „All You Need Is Love“ (1967) – kurz der große Beatles-Hit „She Loves You“ zitiert.
Bei jemandem wie Paul McCartney, der öffentlich wenig Gefühle zeigt und oft unnahbar wirkt, kann der Hörer nur staunen, wie der Komponist bei „Here Today“ sein Herz ausschüttet. Gewiss ließ der Tod des Freundes Paul McCartney nicht kalt, auch wenn sein viel zitierter Kommentar zur Ermordung Lennons („It’s a drag, man.“), den Journalisten ihm unmittelbar nach der Wahnsinnstat entlockten, einen anderen Eindruck erweckt. „Here Today“ ist McCartneys aufrichtige Trauer und gleichsam Gruß an seinen früheren Komponisten-Partner. John Lennon bewunderte McCartney für dessen Komposition „Yesterday“ und so beschlossen George Martin und Paul McCartney, dass es dem Anlass gerecht werden würde, das Lennon-Tribut im Stil von Yesterday zu arrangieren. Schon die ersten Klänge von Streichquartett sowie McCartneys Akustikgitarre und Stimme erzeugen – ohne als Selbstplagiat unangenehm aufzufallen – abermals den Zauber, den wohl jeder empfand, der zum ersten Mal „Yesterday“ hörte. Wie in „Yesterday“ besingt der Komponist Zeiten, in denen es ihm besser ging. Alle Probleme schienen so weit weg und nun, da der Freund nicht mehr lebt, bleibt nichts als die Erinnerung. Das, was Paul McCartney hier in einer Art offenen Brief für John Lennon singt, geht gnadenlos zu Herzen. Zunächst stellt McCartney die Vermutung an, dass John wohl nur darüber lachen würde, wenn er von Paul gesagt bekäme, dieser würde ihn gut kennen. Womöglich ließe er sich zur Aussage hinreißen, dass es Welten wären, die die Beiden trennen würden. Doch John Lennon war eine zutiefst verletzliche und unsichere Person, die nicht gerne die wahren Gefühle zeigte. Doch es gab die gemeinsamen Momente, die belegen, wie nahe die beiden Giganten der Musik einander standen. McCartney weist in „Here Today“ darauf hin. In einem Interview von 2001 erklärte er die Zeile „What about the night we cried“. Sie bezieht sich auf einen Abend, den beide Musiker während einer US-Tournee der Beatles verbrachten. George und Ringo waren nicht dabei und so gab es keinen Grund, sich möglicherweise zu verstellen. John und Paul tranken sich einen Schwips an und gerieten in intensive persönliche Gespräche, bei denen sie sehr offen waren und den Gegenüber besser kennen lernten als je zuvor. Der Abend endete damit, dass die Beiden sich tränenaufgelöst in den Armen lagen. Darüber sollten diejenigen mal nachdenken, die hinsichtlich der Lennon-McCartney-Wahrnehmung immer noch Schwarz-Weiß-Malerei betreiben.
„Well knowing you
You’d probably laugh and say that we were worlds apart.
If you were here today.
(…)
But as for me
I still remember how it was before.
And I am holding back the tears no more.
(…)
What about the night we cried,
Because there wasnt any reason left to keep it all inside.
(…)
And if I say I really loved you
And was glad you came along.
If you were here today.
Ooh- ooh- ooh- for you were in my song.
Ooh- ooh- ooh- here today.“
Mit „Here Today“ endet die erste Hälfte des „Tug Of War“-Albums (Vinylfreunde drehen jetzt die Schallplatte um). Der nächste Song, „Ballroom Dancing“, beschwört ebenfalls vergangene Zeiten – freilich auf einem weitaus oberfächlicherem, unpersönlicherem Niveau als es bei „Here Today“ der Fall war. In dieser temporeichen Nummer macht McCartney die in den Fünfziger und Sechziger Jahren in England weit verbreiteten Tanzhallen (Ballrooms) zum Thema. Das hatte wenig mit Rock’n’Roll zu tun, ging aber an der Jugend auch nicht vorbei. Im Text folgt nach einer bunten Fantasie (das lyrische Ich segelt in einer Porzellantasse den Nil entlang) die Erkenntnis, dass die Ballrooms aus Paul McCartney einen Mann gemacht haben. Ob dies so autobiografisch ist, bleibt unklar. McCartney geht nicht auf Details ein. Das Arrangement passt sich an das an, wofür früher die Ballrooms bekannt waren: Bigband-Sound mit etwas antiquierten Bläsersätzen – inklusive der Ansagen des Organisators eines Tanzwettbewerbs. Etwas rockiger geriet eine Neuaufnahme, die McCartney 1984 veröffentlichte (siehe „Give My Regards To Broad Street“).
„The Pound Is Sinking“ beschäftigte Paul McCartney seit 1977. Richtig zufrieden war er damit nicht, bevor er 1980 auf die Idee kam, „The Pound Is Sinking“ mit einem anderen eher unvollständigen Song zu verschmelzen: „Hear Me Lover“. Dies hat sich als äußerst kluge Entscheidung erwiesen, denn das Amalgam dieser beiden Stücke verschafft dem Endprodukt ein deutliches Plus an Abwechslung und überraschenden Momenten. Geräusche von klimpernden Münzen stehen am Beginn, unmittelbar darauf folgt ein f-Moll Akkord der Akustikgitarre, die kurz gesungene Zeile „The Pound Is Sinking“, bevor dann mächtige Akkorde der Marke Townshend dem Song quasi den Startschuss geben. Es ist weniger ernsthafte Kapitalismuskritik, die Paul McCartney hier in Textform gebracht hat, sondern ein eher augenzwinkernder Kommentar zum Einfluss des Devisenhandels auf den Lauf der Welt. McCartney gibt knappe Wasserstandsmeldungen zum jeweiligen Kurs von Peso, Lira, D-Mark, Franc, Drachme, Dollar, Rubel und Yen. Anschließend fällt der Ex-Beatle in einen abgehobenen, vornehmen englischen Akzent und kritisiert jemanden, der das Handelsgeschick des Vaters scheinbar nicht geerbt hat und beim Chaos der Börse den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Plötzlich, aber musikalisch durchaus nicht unpassend fügt sich die balladeske „Hear Me Lover“-Passage ein, doch bald schon bringen Powerakkorde den Song wieder auf die Spur.
Der nächste Titel, „Wanderlust“, ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Der Songtitel geht auf ein Ereignis während der Wings-Aufnahmen zu „London Town“ zurück. Bekanntlich befanden sich die Wings zu diesem Zweck auf den Virgin Islands (siehe Besprechung „London Town“). Zu einem Zeitpunkt führte die US-Zollpolizei auf der Suche nach Marihuana Razzien auf verschiedenen Yachten durch. Der Kapitän auf McCartneys Kahn war seinem prominenten Gast in dieser Hinsicht offenbar nicht wohl gesonnen, so dass es zum Streit kam. Die Wings entschieden, die Yacht zu verlassen und sich von den liberalen Eignern des Katamarans „Wanderlust“ aufnehmen zu lassen. So wurde „Wanderlust“ für Paul ein Symbol der Freiheit und letztlich zur Inspiration dieser großartigen Ballade. Liest man zwischen den Zeilen, so lässt sich „Wanderlust“ ohne weiteres als ein Plädoyer für „weiche“ Drogen wie Cannabis/Marihuana werten (Textzeile: „What petty crime was I found guilty of?“). Das vom Komponisten gespielte Klavier ist wie so oft bei dessen Balladen das Leitinstrument. Die Melodiesequenzen sind von großer stilistischer Eleganz, überaus harmonisch, feierlich (teilweise sogar barock anmutend) und von unverwechselbarem Charme. Dabei kommt dem Song der Einsatz des renommierten Philip Jones Brass Ensembles sehr zugute. McCartney vollbringt bei diesem Song am Schluss das Kunststück, zwei gegenläufige Melodien zu verweben, so als würde es einen Wettstreit zweier Sänger geben. Ein Stilmittel, dass in der Popmusik äußerst selten vorkommt.
Mit einem bodenständigen akustischen Country-Blues geht es weiter. Bei „Get It“ erfüllte sich Paul McCartney den Traum einer gemeinsamen Aufnahme mit einem großen Idol aller Beatles – dem Rock’n’Roll-Pionier Carl Perkins (Komponist von „Blue Suede Shoes“). Als Carl Perkins auf Montserrat ankam, spielten die Beiden zunächst Klassiker wie „Honey Don’t“, „Lend Me Your Comb“, „Boppin‘ The Blues“ und viele mehr, bevor sie dazu übergingen, das neue McCartney-Stück „Get It“ einzuspielen. Der im Duett gesungene Song scheint Perkins auf den Leib geschrieben zu sein, denn Art und Weise des Vortrags und Carls klassischen Rockabilly-Gitarrenlicks drücken dieser McCartney-Nummer einen ganz eigenen Stempel auf. Zwischen den beiden Musikern herrschte eine entspannte, herzliche und humorvolle Atmosphäre, die nicht nur während des Songs deutlich wird, sondern insbesondere am Schluss, als Carl Perkins in schallendes Gelächter ausbricht. Von den Aufnahmen und der Gastfreundschaft McCartneys begeistert, schrieb Perkins noch in der selben Nacht den Song „My Old Friend“, der am folgenden Tag aufgenommen und endlich 1993 auf dem Carl Perkins-Album „Go Cat Go!“ veröffentlicht wurde.
Die nächsten beiden Stücke wirken ein wenig, als hätten sie gut auf das Vorgängeralbum „McCartney II“ gepasst – allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass sie mit Akkuratesse arrangiert und produziert wurden. „Be What You See“ ist wie auf dem Cover angegeben ein Link, eine nur kurze Überleitung zum folgenden Song „Dress Me Up As A Robber“. Sphärische Klänge sind auf „Be What You See“ zu hören, ein Songfragment, das nur aus zwei Zeilen besteht:
„The one you wanted to be
Is now the one you see.“
Möglichweise ist dies als Selbstgespräch McCartneys zu interpretieren, denn schon während der Produktion dürfte Paul McCartney klar gewesen sein, dass er sich mit „Tug Of War“ als Solokünstler etablieren und die Beatles- und Wings-Schatten hinter sich lassen würde. Doch es bleibt lediglich ein Interpretationsansatz. Mit Textdeutungen sollte man vorsichtig sein; die Beatles selbst haben sich oft genug über Missdeutungen ihrer Texte geärgert (vgl. „Lucy In The Sky With Diamonds“).
Nach der Überleitung erklingt mit „Dress Me Up As A Robber“ der neben „What’s That You’re Doing“ modernste Titel des Albums. Den Song schrieb McCartney schon 1977, doch George Martin war vom vorliegenden Demo nicht überzeugt, so dass er Paul aufforderte, eine neue Demofassung aufzunehmen – die ihn dann schließlich auch zufriedenstellte. Die fertige Albumversion hinterlässt einen sehr positiven Eindruck. Die schmissige Nummer trägt Erkennungsmerkmale lateinamerikanischer Musik und wirkt locker und abwechslungsreich. Selbst Pauls Falsettstimme fügt sich gut in das Gesamtbild von „Dress Me Up As A Robber“. Das furiose Gitarrensolo stammt von McCartney selbst und zeigt dessen Virtuosität auf diesem Instrument.
„Ebony And Ivory“ ist ohne Zweifel der größte Hit von „Tug Of War“. Er erreichte in Deutschland, England und in den USA die Nummer Eins der Single-Charts und war sicherlich ein Grund dafür, warum sich das Album auch so hervorragend verkaufte. Auch ist der engagierte und sozialkritische Text dieses Duetts von Paul McCartney und Stevie Wonder aller Ehren wert. Zur Bedeutung des Textes äußerte sich McCartney wie folgt: „(…) hatte ich den Song ‚Ebony And Ivory“ (Ebenholz und Elfenbein – Anm. d. Verf.), der von den schwarzen und weißen Tasten des Klaviers handelt. Die Idee war, dass man nicht nur weiße Tasten will, aber auch nicht nur die schwarzen, weil es jeweils nur die Hälfte ist. Man braucht eine Kombination von beiden, um zu Harmonien zu gelangen.“ Paul McCartney hielt das für ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit der Harmonie zwischen den Menschen. Er hatte schließlich die Idee, den Song mit einem schwarzen Sänger aufzunehmen. Sein Wunschkandidat war bekanntlich Stevie Wonder. Ob man die Hoffnungen, die der literarische Inhalt von „Ebony And Ivory“ beschwört, als naiv und realitätsfern bezeichnen kann, sei dahingestellt. Musikalisch ist das melodische und eingängige Stück allerdings ein Leichtgewicht und leider auch ein bisschen kitschig und zu dick aufgetragen. Die Maxi-Single von „Ebony And Ivory“ enthält zusätzlich eine von der Instrumentierung zwar identische Version, die jedoch ausschließlich McCartneys Gesang enthält. Leider hat man es versäumt, diese Fassung als Bonus der remasterten CD-Ausgabe von „Tug Of War“ hinzuzufügen.
Wie bereits erwähnt entfachte der Single-Hit einen enormen Käuferansturm und hievte „Tug Of War“ weltweit auf die Spitzenpositionen der Albumcharts (Nummer Eins in Deutschland, England, USA, Schweden, Norwegen). Darüber hinaus wurde „Tug Of War“ mit dem Deutschen Schallplattenpreis in der Kategorie „Pop International“ ausgezeichnet. Nach langen Jahren („Live And Let Die“, 1973) wieder mit George Martin zusammenzuarbeiten, war eine gute Entscheidung, auch wenn die Produktion Ecken und Kanten weitgehend vermissen lässt. Auch die Mitmusiker wie Denny Laine (letzte Zusammenarbeit mit Paul McCartney), Carl Perkins, Stevie Wonder, Stanley Clarke, Andy Mackay oder Eric Stewart trugen ihren Teil dazu bei, dass „Tug Of War“ zu einem ganz großen Wurf in Paul McCartney Solokarriere wurde.
Anspieltipps:
Take It Away / Somebody Who Cares / Here Today / The Pound Is Sinking / Wanderlust / Get It
Bewertung:
–
Pressestimmen:
„Auf seinem bis heute ausgereiftesten Solotrip glänzt McCartney mit wunderschönen Melodien wie dem flotten ‚Take It Away‘ oder einem Duett mit Stevie Wonder, dem inzwischen zum Pop- Evergreen avancierten ‚Ebony And Ivory‘.“ – stereoplay, August 1993
Meiner Meinung nach das beste Solo-Album McCartneys, wobei die Wings-Alben, zumindest für mich, keine Solo-Alben sind.
Obwohl über 30 Jahre dazwischen liegen finde ich „Tug Of War“ fast genauso vielseitig und abwechslungsreich wie „New“ ! McCartney war ja immer schon drauf bedacht möglichst viele unterschiedliche Songs auf seinen Alben zu haben – was ihm in beden Fällen auch sehr gut gelungen ist.
„Tug Of War“ ist für mich ein herausragendes Album, mit vielen Songs die heute Klassiker sind. Allen voran natürlich „Somebody Who Cares“, einer der besten McCartney-Titel überhaupt !
Na klar, die Wings-Alben sind – auch wenn es einen unumstrittenen kreativen Kopf gab – Werke einer Gruppe. Darauf hat McCartney selbst immer großen Wert gelegt.