1972 – „Some Time In New York City“

Some Time In New York City

Veröffentlicht:  15. Juni 1972
LP: Apple 1C 148 – 05 137/38 (Deutschland)
CD: EMI 0946 3 40976 2 8 (Digitally remixed and remastered)

Titel:
Woman Is The Nigger Of The World / Sisters, Oh Sisters / Attica State / Born In A Prison / New York City / Sunday Bloody Sunday / The Luck Of The Irish / John Sinclair / Angela / We’re All Water / LIVE JAM: Cold Turkey / Don’t Worry Kyoko / Well / Jam Rag / Scumbag / Au

Was für ein Verlust an Qualität! „Au“, so heißt der letzte Track dieses Albums und genau dieser Ausruf mag dem Hörer in den Sinn kommen, wenn er nach dem Genuss der letzten beiden Alben „Some Time In New York City“ auflegt. Lennon hatte seinen Texten stets große Bedeutung beigemessen, wobei gleichzeitig ein hohes musikalisches Niveau erhalten blieb. Bei „Some Time“ war das anders. „I Don’t Wanna Be A Soldier“ und „Gimme Some Truth“ vom Vorgängeralbum waren bereits Vorboten politischen Liedguts, doch nun ging es vordergründig um politische Statements – auf Kosten der musikalische Substanz. Wie kam es dazu?

England war das Zentrum der „Swinging Sixties“. Das sah gewiss auch John Lennon so. Anfang der 70er Jahre spürte er hingegen instinktiv, dass Amerika das Zepter übernehmen würde. Speziell New York – die niemals schlafende Stadt – hatte es ihm angetan. So traten John und Yoko ihr eigenes Anwesen Tittenhurst Park kurzerhand an Ringo ab und zogen selbst ins New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village. Bob Dylan persönlich machte auf Fremdenführer und es dauerte nicht lange, bis Polit-Aktivisten mit John Lennon Kontakt aufnahmen. Schließlich hatte Lennon selbst nie eine Hehl aus seiner Sympathie für die politische Linke gemacht. Lebten John und Yoko in England noch luxuriös und feudal, begnügten sie sich nun mit einer kleinen Zweizimmer-Wohnung, in der sie Rebellen wie Jerry Rubin, David Peel (der dann sogar auf Apple eine LP veröffentlichen durfte: „The Pope Smokes Dope“) oder auch Abbie Hoffman empfingen. Plötzlich wurde John Lennon zum Sprachrohr verschiedener, oft radikaler Bewegungen. Ein wahrer „Working Class Hero“.

Dies alles schlug sich auf „Some Time In New York City“ nieder. So gut wie jede Problematik wurde aufgegriffen und vertont. Wie bei „Imagine“ steht auch hier der stärkste Titel am Anfang. Das von einem dominanten Saxophon geprägte „Woman Is The Nigger Of The World“ ergreift Partei für die Gleichberechtigung der Frau. Später wurde Lennon sowohl von Frauenrechtlerinnen kritisiert, die bemängelten, dass ihre Geschlechtsgenossinnen hier als zu passiv beschrieben werden, als auch von der afroamerikanischen Community, die sich am Wort „Nigger“ stieß. Feministisch geht es weiter in „Sisters, Oh Sisters“, das von Yoko Ono geschrieben und gesungen wurde. Der musikalisch banale „Tralala“-Song, so wie auch das Album an sich markiert den Beginn einer Trilogie von Alben (fortgesetzt durch „Double Fantasy“ und „Milk And Honey“), auf denen sich Songs von John Lennon und Yoko Ono abwechseln. Viele Beatles- und Lennon-Fans geraten über die Beteiligung von Yoko Ono an John Lennon-Alben nicht gerade in Verzückung, so dass im Zeitalter digitaler Tonträger nicht selten die Yoko-Titel übersprungen werden. Auch auf „Some Time In New York City“ wirkt Yoko Ono als Interpretin von Rock- bzw. Popsongs oft sehr gewöhnungsbedürftig, auch wenn manchmal ganz reizvoll westliche Melodien mit asiatischen vermengt werden wie beispielsweise in der Ono-Ballade „Born In A Prison“. „We’re All Water“, ein Plädoyer für die Gleichheit der Menschen, ist der dritte reine Yoko-Beitrag zu den Studio-Aufnahmen von „Some Time In New York City“ und ist ein sich auf knapp über sieben Minuten erstreckender Song vom Charakter einer Jam-Session (inklusive der mittlerweile bekannten Vokalakrobatik Yoko Onos).

Neben der Single „Woman Is The Nigger Of The World“ gibt es vier weitere Songs, die als Gemeinschaftkompositionen von Lennon und Ono angegeben sind: „Attica State“ ist ein blueslastiger Titel über einen Aufstand vorwiegend schwarzer Häftlinge für bessere Lebensbedingungen im gleichnamigen New Yorker Staatsgefängnis (in dem heute übrigens der Lennon-Mörder seine Strafe verbüßt). Das Stück „Sunday Bloody Sunday“, musikalisch übrigens nicht verwandt mit dem U2-Song gleichen Namens, kommentiert das Massaker, das britische Soldaten Anfang 1972 in der nordirischen Stadt Derry bei einer Demonstration für Bürgerrechte an 13 Zivilisten verübten. In die gleiche Kerbe hieb „The Luck Of The Irish“, ein Folksong im Dreiviertel-Takt. Schließlich ist noch „Angela“ zu nennen, eine Lennon-Ono-Komposition über die Black Panther-Aktivistin Angela Davis. Dieser musikalisch orientierungslos umher irrende Song wird von John und Yoko unisono gesungen, ohne dabei harmonisch zu überzeugen.

„New York City“ ist ein kerniger, typischer Lennon-Rock’n’Roll. Er erinnert musikalisch und durch seinen tagebuchartigen Text ein wenig an „The Ballad Of John & Yoko“, ohne allerdings dessen Qualität zu erreichen. In Blues-Gefilde begab sich Lennon wieder mit „John  Sinclair“. Sinclair war ein im Untergrund tätiger Schriftsteller und Dichter (und später Manager der Band MC5), der zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er verdeckten Ermittlern der Polizei zwei Joints verkaufte. Der ganz von einer im Slide-Stil gespielten Dobro-Gitarre geprägte Song mündet in der monoton wiederholten und aufgrund dessen nervigen Forderung, Sinclair endlich freizulassen:

„Gotta, gotta, gotta, gotta, gotta, gotta, gotta, gotta, gotta, gotta, gotta, gotta, gotta, gotta set him free.“

„Some Time In New York City“ bot neben der Studio-LP noch ein Bonus-Album, das Liveaufnahmen aus dem Londoner Lyceum und aus dem New Yorker Fillmore East enthielt. Beim Londoner Auftritt der Plastic Ono Band (der damals u.a. George Harrison, Eric Clapton, Billy Preston und Klaus Voormann angehörten) am 15. Dezember 1969 wurde eine packende Version von „Cold Turkey“ und eine weitere „Don’t Worry, Kyoko“-Tortur gespielt. „Well“, „Jamrag“, „Scumbag“ und „Au“ stammen von einem Gastauftritt von John und Yoko bei einem Konzert von Frank Zappa im Fillmore East am 6. Juni 1971. Allenfalls Johns Version von „Well (Baby, Please Don’t Go)“ ist erträglich. Der Rest ist das übliche Gemähe und Gekrähe.

Die Kritik ging mit dem Album hart ins Gericht. Der „Musikexpress“ schildert es rückblickend als „bestenfalls unbeholfen, hölzern und schwülstig, getränkt von einer aus zweiter Hand bezogenen, halb verdauten Empörung, die seine Songs sperrig und ungeschickt wirken lässt statt schneidend und leidenschaftlich“. Mehr ist dem kaum hinzuzufügen, außer vielleicht, dass Lennon sich zu allem Überfluss mit den Nobodys von „Elephant’s Memory“ von einer Band begleiten ließ, die mit ihm überhaupt nicht harmonierte.

Der Backkatalog Lennons wird nach und nach remastert und in liebevoll gemachten Editionen neu auf den Markt gebracht. Was sich Yoko Ono bzw. EMI / Capitol dabei gedacht haben, im Falle von „Some Time In New York City“ auf „Jamrag“, „Scumbag“ und „Au“ zu verzichten und statt dessen „Happy Xmas (War Is Over“) und „Listen The Snow Is Fallig“ hinzuzufügen – das bleibt ein Rätsel. Wenn auch „Some Time In New York City“ alles andere als ein Ruhmesblatt in Lennons Solokarriere darstellt, so sind Sammler doch an Vollständigkeit interessiert. So muss im Zweifelsfall nach der CD-Erstauflage Ausschau gehalten werden, weil diese noch alle Tracks des Doppelalbums enthielt.

Anspieltipps:

Woman Is The Nigger Of The World, New York City, Cold Turkey

Bewertung:

Pressestimmen:

„Lennon, you’re a pathetic, ageing revolutionary“    – New Musical Express
„Dense, shambolic, strident – but at least he cared. The critics didn’t.“     – MOJO
„Weniger Pop als vertonte Agitation. Und die ist … naturgemäß platt, auch wenn ein Beatle sie ausbrütet.“    – Good Times

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