1998 – „John Lennon Anthology“

John Lennon Anthology

Veröffentlicht:  02. November 1998
LP: Nicht als Schallplatte erhältlich
CD: EMI/Parlophone 7243 8 30614 2 6

Titel:

DISC 1 – „Ascot“:
Working Class Hero / God / I Found Out / Hold On / Isolation / Love / Mother / Remember / Imagine / „Fortunately“ / Baby Please Don’t Go / Oh My Love / Jealous Guy / Maggie Mae / How Do You Sleep? / God Save Oz / Do The Oz / I Don’t Want To Be A Soldier / Give Peace A Chance / Look At Me / Long Lost John

DISC 2 – „New York City“:
New York City / Attica State (live) / Imagine (live) / Bring On The Lucie (Freda Peeple) / Woman Is The Nigger Of The World / Geraldo Rivera – One to One Concert / Woman Is The Nigger of The World (live) / It’s So Hard (live) / Come Together (live) / Happy Xmas / Luck Of The Irish (live) / John Sinclair (live) / The David Frost Show / Mind Games (I Promise) / Mind Games (Make Love, Not War) / One Day At A Time / I Know (I Know) / I’m The Greatest / Goodnight Vienna / Jerry Lewis Telethon / „A Kiss Is Just A Kiss“ / Real Love / You Are Here

DISC 3 – „The Lost Weekend“:
What You Got / Nobody Loves You When You’re Down And Out / Whatever Gets You Thru The Night (home) / Whatever Gets You Thru The Night (studio) / Yesterday (parody) / Be-Bop-A-Lula / Rip It Up/Ready Teddy / Scared / Steel And Glass / Surprise, Surprise (Sweet Bird of Paradox) / Bless You / Going Down On Love / Move Over Ms. L / Ain’t She Sweet / Slippin‘ And Slidin‘ / Peggy Sue / Bring It On Home To Me/Send Me Some Lovin‘ / Phil And John 1 / Phil And John 2 / Phil And John 3 / „When In Doubt, Fuck It“ / Be My Baby / Stranger’s Room / Old Dirt Road

DISC 4 – „Dakota“:
I’m Losing You / Sean’s „Little Help“ / Serve Yourself / My Life / Nobody Told Me / Life Begins At 40 / I Don’t Wanna Face It / Woman / Dear Yoko / Watching The Wheels / I’m Stepping Out / Borrowed Time / The Rishikesh Song / Sean’s „Loud“ / Beautiful Boy / Mr. Hyde’s Gone (Don’t Be Afraid) / Only You / Grow Old With Me / Dear John / SOMETHING MORE: The Great Wok / Mucho Mungo / Satire 1 / Satire 2 / Satire 3 / Sean’s „In The Sky“ / It’s Real

Seit Ende der 1980er Jahre kursierte unter Sammlern plötzlich immer mehr unbekanntes Lennon-Material in erstaunlich guter Klangqualität. Die Quelle war eine Radiosendung, die der Lennon-Vertraute und Radiomann Elliot Mintz von 1988 bis 1992 moderierte: „The Lost Lennon Tapes“. Yoko Ono gab Mintz etliche Tonbänder, die unveröffentlichtes Material von John Lennon beinhalteten. – angeblich einige Hundert Stunden – und erteilte die Erlaubnis, diese für Radiozwecke zu verwenden. Clevere Lennon-Fans schnitten Mintz‘ Moderation heraus und veröffentlichten in Windeseile, d.h. sobald ihnen neue Aufnahmen zur Verfügung standen, diese Raritäten als Raubpressungen. Die „Lost Lennon Tapes“ gelten heute als die umfassenste und legendärste Bootleg-Serie, die je produziert wurde. Das Label „Living Legend“ veröffenlichte einige CDs gleichen Namens, die aber nicht verwechselt werden sollten mit dem „Original“ auf Bag Records bzw. später auf CD durch Walrus Records.

Nach dem immensen (illegalen) Erfolg der „Lost Lennon Tapes“ zog Yoko Ono 1998 nach um die Sammler ganz offiziell mit rarem Material zu bedienen. Damit ist auch gleich der Adressat vorgegeben: Ähnlich wie bei der Beatles-„Anthology“ ist auch hier Neueinsteigern dringend vom Kauf abzuraten. Die „John Lennon Anthology“ richtet sich an den fortgeschrittenen Lennon-Hörer, der auch an den Entstehungsprozessen bzw. alternativen Versionen der bekannten Songs interessiert ist.

Zunächst ein Wort zur formalen Gestaltung des Box-Sets: Die CDs und das üppige, mit Fotos, Songtexten und persönlichen Erinnerungen von Yoko Ono ausgestattete Booklet stecken in einem von oben zu öffnenden Schuber. Zieht man den Deckel hoch, ist auch der Basisträger schön gestaltet. Er zeigt auf der einen Seite John Lennon an seinem weißen Flügel sitzend und auf der anderen einen Faksimile-Textentwurf von „Beautiful Boy“. Mehrfach aufklappbare, liebevoll designte Digipacks (nur der CD-Träger ist aus Kunststoff, der Rest – wie einst bei Schallplatten – ist aus Pappe) beherbergen die CDs.

Die Raritätenkollektion ist nach Schaffensphasen gegliedert. Disc 1 ist nach der Ortschaft nahe Lennons Anwesen Tittenhurst Park „Ascot“ betitelt. Dieser Ort ist synonym für die Entstehung von John Lennons Meisterwerk „Imagine“ und generell für die Aufnahmen, die er von 1969 bis 1971 in England gemacht hat. Die zweite CD „New York City“ befasst sich mit dem politisch motivierten Lennon, der mittlerweile England verlassen hatte und in den USA wohnte. Höhepunkt dieser Epoche war sicherlich das „Some Time In New York City“-Album, doch auch die Arbeiten an „Mind Games“ berücksichtigt der zweite Silberling der „John Lennon Anthology“. Die 18-monatige Trennung von Yoko Ono 1973-74 ist allgemein als das „Lost Weekend“ bekannt, und so trägt auch Disc 3 diesen Titel. Folglich enthält sie rares Material zu den Alben „Walls And Bridges“ und „Rock’n’Roll“. Die letzte CD ist nach dem Luxus-Apartment der Lennons am New Yorker Central Park benannt und thematisiert John Lennons leider nur kurzen Neustart ins Musikbusiness am Ende der 70er Jahre.

Natürlich muss man Yoko Ono für die Öffnung der Archive dankbar sein und auch die Gliederung nach Schaffensphasen ist gut und nachvollziehbar. Doch auch eine andere Struktur wäre denkbar gewesen. Man hätte alle Demos auf einer CD versammeln können, ebenso wie Liveaufnahmen in chronologischer, aber geballter Form auf einer weiteren CD. Alternativfassungen bekannter Titel hätten schließlich ebenso zusammengefasst werden können wie auch eine CD mit „Kuriositäten“. So aber ist alles auf vier Scheiben verteilt, was manchmal das Hörvergnügen etwas schmälert. Auch ist es unerklärlich, dass beispielweise das alte Traditional „Maggie Mae“ (aufgenommen 1979) der „Ascot“-CD zugeordnet ist. Noch eine Frage: Was macht „Real Love“ (Aufnahme von 1980) auf der „New York City“-CD? Eine Antwort darauf lässt sich noch nicht einmal vermuten.

Doch etwas konkreter zum Inhalt: Die erste CD dieses Sets ist gleichzeitig die beste. Während man auf den kurzen Gesprächsfetzen „Fortunately“ vom „Bed-In“ gut und gerne verzichten kann, ist es eine wahre Wonne, der Entstehung von „John Lennon / Plastic Ono Band“ bzw. „Imagine“ zu lauschen. John Lennon war schlichtweg in Höchstform. Interessant auch die folkige, gut gelaunte Nummer „Long Lost John“. Zu den Höhepunkten der CD 2 zählt sicher der Auftritt John Lennons beim Benefizkonzert im New Yorker „Apollo“ für die Opfer des Aufstandes im Attica State-Gefängnis. Am 17. Dezember 1971 spielt John Lennon, der sich artig bedankt für die Ehre auftreten zu dürfen,  „Attica State“ und eine sehr schöne Akustikversion von „Imagine“. Das „One-To-One“-Konzert (vgl. „Live In New York City“) ist mit drei Songs vertreten, die allerdings von der zweiten Show stammen. Zwei Songs vom Mini-Konzert in Ann Arbor, das eine Woche vor dem „Apollo“-Auftritt stattfand runden die Live-Songs ab. Wie auch beim „Apollo“-Mitschnitt wurde hier Yokos Beitrag „Sisters, O Sisters“ weggelassen. Sehr interessant sind auch die Rohfassungen der Auftragsarbeiten für Ringo Starr: „I’m The Greatest“ und „Goodnight Vienna“. Äußerst schade ist es, dass auf dieser CD die Demofassungen von „Woman Is The Nigger Of The World“ und „New York City“ arg gekürzt wurden, so dass sie nicht mal eine Minute lang sind. Statt dessen sind mit „Geraldo Rivera …“, „David Frost Show“ und „Jerry Lewis Telethon“ selbst für Sammler unerfreuliche Wortbeiträge enthalten. Das Lennon-Archiv bietet mehr lohnenswerte Musik, als dass man sich bei einer „Anthology“ von derlei Dingen im Hörgenuss unterbrechen lassen muss.

Diese eher überflüssigen Beiträge setzen sich auch auf Disc 3 fort. Gewiss soll das Chaos des „Lost Weekend“ anschaulich gemacht werden, doch den Hickhack zwischen John Lennon und Phil Spector („John And Phil 1-3“) hört man sich eigentlich nur ein Mal an, dann reicht es. Der Rocker „Move Over Ms. L.“, den man in digitaler Form nur auf der „John Lennon Collection“ findet, ist hier in einer Probenversion zu hören. Erste Band-Gehversuche mit den „Walls And Bridges“-Songs sind zuvor schon auf „Menlove Ave.“ dokumentiert worden. Die auf Disc 3 versammelten Interpretationen sind nicht minder interessant. Sie zeigen, dass die Band noch besser mit den Stücken vertraut ist. Ungeachtet dessen bleiben die Interpretationen eindringliche musikalische Statements. Reichlich deplatziert zwischen Liedern von 1973 und 1974 ist wieder ein Song aus der „Double Fantasy“-Phase: „Stranger’s Room“ wurde ebenfalls erst 1980 aufgenommen und ist ein Vorläufer des später als „I’m Losing You“ bekannten Titels. Eine beeindruckende, hart rockende Version von „I’m Losing You“ eröffnet „Dakota“, die letzte CD. Die Songs zeigen, dass John Lennon auch 1980 nichts von seiner Faszination verloren hatte. Musikalisch ist nicht alles eine Offenbarung, doch egal, was Lennon spielt: Man ist gefesselt von der Ehrlichkeit und Direktheit seiner Musik. „Watching The Wheels“ ertönt hier als Akustikversion in bester Bob Dylan-Tradition. Doch John Lennon wäre nicht er selbst gewesen, wenn er nicht wieder „herumkasperte“ – hier zu hören in der amüsanten „Serve Yourself“-Tirade. War die Chronologie auf den anderen CDs seltsamerweise immer wieder unterbrochen worden durch Spätwerke, so ist es hier umgekehrt. Zwischen all den „Double Fantasy“- bzw. „Milk And Honey“-Songs findet sich nun plötzlich „Only You“. Diesen Platters-Klassiker spielte John Lennon 1974 mit Ringo Starr für dessen „Goodnight Vienna“-Album ein. Hier ist er mit John am Leadgesang vertreten. Eine bewegende Aufnahme ist „Grow Old With Me“. Der frühere Beatles-Produzent George Martin hat extra für dieses Boxset ein dezent orchestrales Arrangement geschrieben und neu produziert. Wer dann nochmal richtig schmunzeln möchte, dem sei „Satire 1-3“ empfohlen, köstliche Parodien auf Bob Dylans näselnden Gesangsstil.

Fazit: Eine tolle Box zwar, aus der man aber mehr hätte machen können. Weniger Interview- bzw. Wortanteile, konsequentere Chronologie, weniger Kürzungen / Editierung von Demoversionen (auch ein Manko der Beatles-„Anthology“) und selbst wenn Yoko Onos Ausführungen im Booklet im Kontext ihrer Beziehung zu John informativ sind: Man hätte sich als Sammler ausführlichere Liner Notes resp. Hintergrundinformationen gewünscht.

Anspieltipps:

DISC 1:    Working Class Hero / God / Isolation / Love / Imagine / Jealous Guy / How Do You Sleep? / Long Lost John
DISC 2:    Imagine (live) / I’m The Greatest / Goodnight Vienna / Real Love
DISC 3:    Whatever Gets You Thru … (studio) / Steel And Glass / Nobody Loves You …/ Move Over Ms. L. / Peggy Sue
DISC 4:    I’m Losing You / Watching The Wheels / Grow Old With Me / Satire 1-3 / Only You

Bewertung:

+

Pressestimmen:

„Ein Song-Paket, dem man trotz seines Charakters als Sammlung überwiegend „unfertigen“ Materials nur eines bescheinigen kann: das Prädikat „essentiell“    – stereoplay 01/99

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