1971 – „Imagine“

Imagine

Veröffentlicht:  08. Oktober 1971
LP: Apple 1C 062 – 04 714 (Deutschland)
CD: EMI 7243 5 24858 2 6 (Digitally remixed and remastered)

 

Titel:
Imagine / Crippled Inside / Jealous Guy / It’s So Hard / I Don’t Wanna Be A Soldier Mama / Gimme Some Truth / Oh My Love / How Do You Sleep? / How? / Oh Yoko!

Nur ganz selten gelingt es, nach einem künstlerisch mehr als überzeugenden Werk noch eine Schippe draufzulegen. John Lennon schaffte das mit „Imagine“, erreichte allerdings in den letzten neun Jahren seines Lebens nie wieder dieses Niveau.

Nach dem Seelenstrip von „John Lennon / Plastic Ono Band“ (1970) legte John Lennon wie gewohnt ein sehr persönliches Album vor, das aber trotzdem einen großen Unterschied vorweist: Es ist – ganz im positiven Sinne – viel kommerzieller. Während es der Vorgänger gerade mal bis auf Platz 6 der US-Charts schaffte (lediglich Platz 11 in England), belegte „Imagine“ auf beiden Seiten des Atlantiks die Spitzenposition. Die Songs wirken in der Mehrheit nicht so sperrig und vermitteln eine verträumte Atmosphäre. „Imagine“ besteht aus nicht weniger als vier reinen, sehr melodiösen Balladen  – ein Gebiet, auf das eher Paul McCartney spezialisiert ist.

Der Song „Imagine“ war John Lennon so wichtig, dass er das ganze Album danach benannte und auch dadurch eröffnen ließ. „Imagine“ entwirft eine utopische Welt, in der keine Landesgrenzen, keine Religion oder materieller Besitz das friedliche Zusammenleben gefährden. Oft genug für seine Ideen belächelt, gesteht sich Lennon ein, dass er ein Träumer sein mag, sich aber gewiss sein kann, dass er damit nicht alleine steht und darauf hoffen kann, dass sich ihm und Yoko immer mehr Menschen anschließen:

„You may say I’m a dreamer
But I’m not the only one.
I hope someday you’ll join us
And the world will be as one.“

Die hübsche, sanfte Melodie wird getragen vom simplen Klavierspiel Lennons. Dezenter Streicher-Zuckerguss machte „Imagine“ radiotauglich und bescherte John Lennon seine erste richtige Hitsingle, vielleicht gerade wegen der unschuldigen Naivität und kindlichen Einfachheit der Grundidee.

Ganz im Gegensatz dazu kommt „Crippled Inside“ recht fröhlich daher und verbreitet eine country & westernartige Stimmung, die hauptsächlich durch das Honky-Tonk-Piano und die von George Harrison gespielte Dobro erzeugt wird. Der Text ist allerdings bissig und ist Lennons Kommentar zum Thema Selbstbetrug. Auch wenn der Adressat nicht explizit genannt wird, so kann gemutmaßt werden, dass sich diese Attacke gegen Paul McCartney richtet. In diesem Zusammenhang lässt „How Do You Sleep?“ allerdings keinerlei Zweifel. Hier greift John Lennon seinen ehemaligen Songwriting-Partner mehr als deutlich an. Lennon wirft McCartney vor, sich nur mit Ja-Sagern zu umgeben, bezeichnet dessen Songs abfällig als „Muzak“, meint, dass McCartney unter der Fuchtel seiner Frau steht und stellt fest, dass sein einziger Verdienst „Yesterday“ sei.

„You live with straights who tell you
You was king
Jump when your mamma tell you anything.“

(…)

„The only thing you done was yesterday
And since you’ve gone you’re
Just another day.“

(…)

„The sound you make is muzak to my ears
You must have learned
Something in all those years.“

Während der „Imagine“-Sessions würzte Lennon den Text noch zusätzlich durch Schimpfwörter unter der Gürtellinie und war gut beraten, diese im Endprodukt zu entfernen. Die der Schallplatte beigelegte Postkarte zeigt Lennon, wie er ein Schwein an den Ohren packt – ebenfalls ein unmissverständlicher Seitenhieb in Richtung McCartney, der in gleicher Pose (allerdings mit einem Schafbock) auf dem Cover seiner zuvor erschienenen LP „Ram“ zu sehen war. Zudem richtete McCartney auf „Ram“ seinerseits einige eher verschlüsselte Textstellen an John Lennon, die diesen zu Antworten wie „How Do You Sleep?“ veranlasste. Es war schlichtweg eine schwierige Zeit für die verletzten Künstlerseelen der beiden ehemals engen Freunde. In späteren Interviews relativierte Lennon die Hasstiraden. Er wusste selbst genau, das die „Yesterday“-Aussage jeglicher Grundlage entbehrte und auch die „Jump when your mamma tell you anything“-Zeile ist Humbug, trifft sie doch vielmehr auf Lennon selbst zu. Musikalisch betrachtet ist „How Do You Sleep?“ eines der Highlights des Albums und besticht durch ein orientalisch/asiatisch anmutendes Streicherarrangement, das mit einem blueslastigen Slidegitarrensolo von George Harrison korrespondiert – sicher eines der besten Slide-Soli, die er jemals einspielte. Ein ungewöhnliches Streicherarrangement, für die ein gewisser Torrie Zito verantwortlich zeichnete, enthält auch der eher gewöhnliche Blues „It’s So Hard“.

„Jealous Guy“ ist ein ganz zauberhaftes, beinahe zerbrechlich wirkendes Stück, das auf eine Lennon-Komposition aus dem Jahr 1968 zurückgeht. Damals hieß es allerdings „Child Of Nature“, hatte einen anderen Text und stand in der engeren Auswahl für das Weiße Album der Beatles. John Lennon tat gut daran, den Song noch reifen zu lassen und ihn für „Imagine“ neu zu überarbeiten. Hier präsentiert er sich als reumütiger Lebenspartner Yoko Onos. In anrührender Weise reflektiert er sein besitzergreifendes Verhalten Yoko gegenüber, das sich oft in fast krankhafter Eifersucht und Angst äußerte, sie zu verlieren. In besonderer Erinnerung bleibt der Song auch durch das geschmackvoll gespielte Piano von Nicky Hopkins und den Einfall, die Melodie zum Schluss gepfiffen zum Vortrag zu bringen.

Gänsehaut beschert der Bombast-Sound von „I Don’t Wanna Be A Soldier Mama“, obwohl der Song musikalisch eher monoton ist (basierend auf zwei Akkorden), doch von seiner düsteren Atmosphäre lebt. Doch dieser Titel bleibt nicht bei diesem pazifistischen Inhalt, auch möchte Lennon (?) weder reich noch arm sein und ebenso auch kein Mann der Kirche, kein Mann des Gesetzes oder gar ein Seemann. Zwei Kompositionen älteren Datums sind „Oh My Love“ (1968) und „Gimme Some Truth“, das bereits von den Beatles im Januar 1969 („Get Back“-Sessions) geprobt wurde. Nichts als die Wahrheit ist das, worauf John Lennon aus ist und zählt stakkatoartig eine ganze Reihe von Personen auf, die die Wahrheit nur heucheln:

„uptight-short-sighted-narrow-minded hypocritics“
„neurotic-psychotic-pig-headed politicians“
„short-haired-yellow-bellied-son-of-tricky-dicky“
„tight-lipped-condescending-mommies little chauvinists“
„schizophrenic-ego-centric-paranoic-prima-donnas“.

Erneut ein Bespiel für den versierten Textdichter Lennon. „How?“ präsentiert sich als McCartney-ähnliche Ballade (Anleihen bei „The Long And Winding Road“), in der Selbstzweifel im Vordergrund stehen: Angst vor Orientierungslosigkeit, Angst davor, Gefühle zu zeigen oder auch Angst davor, Liebe zu geben – und genau das hat direkt mit Lennons Biografie zu tun:

„How can I have feelings when my
Feelings have always been denied.“

„How can I give love when love is something
I ain’t never had.“

„Oh My Love“ hingegen kann man sicher zu den schönsten Liebesliedern John Lennons an Yoko Ono zählen. Der Text reflektiert noch einmal, dass John erst durch Yoko zu sich selbst gefunden hat und in der Lage ist, die Dinge klar zu sehen. Der Abschluss des Albums „Oh Yoko!“ ist gleichfalls ein Liebeslied, jedoch nicht in romantischer, zärtlicher Stimmung, sondern ausgelassen und fröhlich. Zugleich eine eingängige Melodie, die auch eine erfolgreiche Single hätte sein können. Es gab sogar Pläne, den Song auszukoppeln, doch John Lennon sprach sich letztlich dagegen aus.

John Lennon hatte mit „Imagine“ alles richtig gemacht und sich endgültig von den Beatles und seinen experimentellen, die Öffentlichkeit verschreckenden Erstlingswerken emanzipiert. Ungeachtet dessen war auch „Imagine“ eine angedeutete Reunion, denn George Harrison ist auf der Hälfte der Songs als Gitarrist vertreten. Ringo Starr war erneut Lennons Wunschkandidat am Schlagzeug, konnte wegen Dreharbeiten zum Italo-Western „Blindman“ aber nicht zur Verfügung stehen. Klaus Voormann war abermals eine feste Größe am Bass, Alan White ein ordentlicher Ringo-Ersatz und Nicky Hopkins veredelte mit seinem einzigartigen Piano-Stil besonders „Jealous Guy“, „Oh My Love“ und „Oh Yoko!“. Die Aufnahmen zum Album sind übrigens filmisch hervorragend dokumentiert auf der DVD „Gimme Some Truth“.

Anspieltipps:

Imagine / Jealous Guy / How Do You Sleep? / Oh My Love

Bewertung:

Pressestimmen:

„A hymnal vision of Utopia – and personal failure – wrapped up in a pop production“     – MOJO
„There are no duds on this ‚Imagine‘ album. Lennon rides high!“    – New Musical Express

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert