1970 – „All Things Must Pass“

All Things Must Pass

Veröffentlicht:  27. November 1970
LP: 1C 192 – 04707/8/9 (Deutschland)
CD: EMI CDS 7 46688 8

Titel:
CD 1:
I’d Have You Anytime / My Sweet Lord / Wah-Wah / Isn’t It A Pity (Version One) / What Is Life / If Not For You / Behind That Locked Door / Let It Down / Run Of The Mill / Beware Of Darkness / Apple Scruffs / Ballad Of Sir Frankie Crisp (Let It Roll) / Awaiting On You All / All Things Must Pass

CD 2:
I Dig Love / Art Of Dying / Isn’t It A Pity (Version Two) / Hear Me Lord / Out Of The Blue / It’s Johnny’s Birthday / Plug Me In / I Remember Jeep / Thanks For The Pepperoni

Während der Aufnahmen zu „Let It Be“ sprach George Harrison offen mit John Lennon über eine Solokarriere, allerdings in friedlicher Koexistenz mit weiterer Beatlesmusik: „Ich habe so viele Songs. Das würde für die nächsten zehn Jahre oder die nächsten zehn Alben reichen. Ich möchte vielleicht einfach nur ein Album machen. Das wäre gut. Hauptsächlich, um sie alle einmal loszuwerden. In zweiter Hinsicht um mal zu sehen, wie ich sie aufnehmen würde. Es wäre nett, wenn jeder von uns separat so etwas machen könnte. All meine Songs könnte ich Anderen geben, die sie auch gut aufnehmen würden. Aber ich erkenne plötzlich, ‚fuck all that!’, ich sollte sie aufnehmen. Ich könnte alles innerhalb einer Woche schaffen, aufnehmen, abmischen, alles. Es ist alles ganz einfach. Sie brauchen nicht viel Aufwand.“ In den späten Beatlesjahren schrieb George Songs in ähnlicher Taktfrequenz wie John und Paul – zeitweise vielleicht sogar mehr. Der Umstand, dass John und Paul ihm lediglich zwei Songs (die Ausnahme bildet „Revolver“ mit drei Stücken) pro Album gewährten, wurde für George zu einer Quelle tiefer Frustration. Aber nicht nur das ärgerte George. Wenn er mal einen neuen Song vorstellen wollte, ging dies nicht selten im kreativen Konkurrenzkampf Lennon / McCartney unter: „Das lag alles daran, dass sie am Anfang dermaßen viele Songs hatten, dass sie automatisch dachten, ihre hätten Vorrang. Ich selbst musste zehn Songs lang warten, bis sie sich überhaupt einen von mir anhörten.“ Stand dann eine Harrison-Aufnahme an, trat nicht immer der Ethusiasmus zu Tage, den John und Paul bei ihren eigenen Aufnahmen zeigten. Zuweilen hatte John sogar gar keine Lust, sich überhaupt an den Aufnahmen zu Georges Kompositionen zu beteiligen. In einem Radiointerview vom April 1970 gestand George, dass er bis hin zu de Aufnahmen von „Abbey Road“ wenig Interesse hatte, wie John und Paul die Ellenbogen einzusetzen, damit auch seine Lieder Beachtung fanden.

Kurz nachdem Pauls Album die Spitze der amerikanischen Charts erreichte, begann George am 26. Mai mit den Aufnahmen zu seinem ersten „echten“ Album „All Things Must Pass“, die sich bis in den frühen November 1970 erstreckten. Als Produzent verpflichtete er Phil Spector, der kurz zuvor die umstrittene Postproduktion der „Get Back“-Aufnahmen abgeschlossen hatte. Ende 1969 bestritt George zusammen mit seinem Freund Eric Clapton in England und Dänemark fünf Konzerte als Mitglieder der Delaney & Bonnie Band. Nach dem Ende dieser Tour verbrachten die Musiker der Band viel Zeit mit Eric, der seinerseits mit George von 1968 bis zu dessen Tod 2001 in engem Kontakt stand. George, dem die Gesellschaft anderer Musiker zu dieser Zeit mehr bedeutete als die von seinen langjährigen Weggefährten, brauchte nicht lange zu überlegen, wer ihn auf seinem Magnus Opus begleiten sollte. Nahezu die komplette Delaney & Bonnie-Gang, namentlich der Gitarrist Dave Mason, Schlagzeuger Jim Gordon, Bassist Carl Radle, Keyboarder Bobby Whitlock, Trompeter Jim Price und Saxophonist Bobby Keys (aus denen dann Eric Claptons Projekt Derek & The Dominos wurden) gehörten nun zum Nukleus der „All Things Must Pass“-Sessions. Selbstverständlich war auch Eric Clapton mit von der Partie und sorgte für etliche instrumentale Glanzlichter. Wie bei den kurz zuvor stattgefundenen „New Morning“-Aufnahmen mit Dylan waren es jedoch erneut vertragliche Hindernisse, die George veranlassten, Eric später in den Credits des Albums nicht zu erwähnen. Ungenannt blieben ebenfalls der Gitarrist Peter Frampton und der noch unbekannte Phil Collins, der bei „Art Of Dying“ die Congas bediente.

Müsste man die vier besten Soloalben der Ex-Beatles nennen – „All Things Must Pass“, in vielerlei Hinsicht ein ungewöhnliches Album, wäre sicher darunter. In den Zeitraum der Aufnahmen fällt auch der Tod von Georges Mutter Louise Harrison, die im Juli 1970 ihrem Krebsleiden erlag. Aber wie auch Lennons Album „John Lennon / Plastic Ono Band“ und McCartneys „Band On The Run“ eindringlich demonstrieren, können Stress, Schmerz oder widrige Umstände mitunter zu erstaunlichen Ergebnissen führen. Einige der auf „All Things Must Pass“ vertretenen Lieder sind bereits bei den letzten Beatles-Sessions gespielt worden, so beispielsweise das Titelstück sowie „Hear Me Lord“, „Isn’t It A Pity“ und „Let It Down“, blieben jedoch unfertig und leidenschaftslos. So ist es als unwahrscheinlich zu betrachten, dass die anderen von Harrison bereits zu Beatleszeiten geschriebenen Stücke der Gruppe zur Aufnahme angeboten wurden. Damit war George Harrison gut beraten, denn nur in Eigenregie konnte er den Songs die Aufrichtigkeit und Hingabe verleihen, die sie benötigten.

Vor dem tatsächlichen Beginn der Aufnahmen spielte George in einer Vorproduktions-Session seinen Mitmusikern und Phil Spector 15 Songs vor, auf denen er sich selbst vorwiegend an der akustischen, aber auch an der elektrischen Gitarre begleitete. Von diesen Stücken fanden jedoch lediglich sieben ihren Weg auf das Album. Bis auf zwei Ausnahmen („Beautiful Girl“ und der Dylan-Song „I Don’t Want To Do It“), auf die Harrison bei späteren Produktionen wieder zurückgriff, blieb der Rest bislang unveröffentlicht.

„All Things Must Pass“ wird mit einem eher ruhigen Song eröffnet: „I’d Have You Anytime“, den Song, den Harrison und Dylan bereits bei ihrem Zusammentreffen Ende 1968 begannen zu schreiben. In seiner Autobiographie „I Me Mine“ erinnert sich George Harrison, dass er direkt nach den Aufnahmen der Beatles zum Weißen Album und nach Abschluss der Arbeiten am Album von Jackie Lomax einer Einladung von Bob Dylans Begleitgruppe The Band folgte. Zu Thanksgiving traf er mit Bob Dylan zusammen, der gerade einen schweren Motorradunfall auskuriert hatte und nach längerer Zeit wieder aus der Versenkung auftauchte. George verbrachte viel Zeit mit Bob und seiner Familie. Beide Musiker fühlten sich jedoch zunächst unbehaglich. Besonders Dylan war nervös, schüchtern, hatte wenig Zuversicht und sprach kaum ein Wort. Erst am dritten Tag nahmen beide ihre Gitarren und brachen damit das Eis. Es zeigte sich, dass jeder sich über die Stärke des anderen im Klaren war. George bat Bob, ihm für den Anfang ein paar Textzeilen zu schreiben. Dylan hingegen schien fasziniert vom Gitarristen Harrison und fragte ihn, ob er ihm ein paar Akkorde zeigen könne. George spielte die große Septime des G-Akkords, und brachte damit „I’d Have You Anytime“ auf den Weg. So lässt sich heute mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass die Musik von George verfasst wurde, während große Teile des Textes von Bob Dylan stammten. George Harrison war von Dylans Gabe begeistert, einfache, prägnante Texte zu schreiben. Es erschien ihm, als bräuchte er sie nur so aus dem Ärmel zu schütteln. Der von Dylan geschriebene Übergangsteil („All I Have Is Yours / All You See Is Mine / And I’m Glad To Hold You In My Arms / I’d Have You Anytime“) enthält in der Endfassung auf dem Album einige einfache, aber wunderschöne von Eric Clapton gespielte Figuren.

Wenn es einen Song gibt, der in George Harrisons Post-Beatles-Karriere sowohl Glanzpunkt als auch empfindlichen Nackenschlag darstellt, dann ist es „My Sweet Lord“. Nachdem „I’d Have You Anytime“verklungen ist, eröffnet ein von mehreren Akustikgitarren gespielter, mächtiger Fis-Moll-Akkord den wohl spirituellsten Song des Albums. Harrison schreibt in „I Me Mine“, dass er sich lange überlegt hatte, ob er mit einem solchen Text, einem solchen Glaubensbekenntnis an die Öffentlichkeit gehen solle, da vielen Menschen das Wort „Gott“ unangenehm sei, sie mehr noch ärgerlich mache. George fühlte sich, als hätte er seinen Kopf schon in die Guillotine gelegt und wünschte, jemand anders könnte für ihn einspringen. Er schätzte seit seiner Kindheit zwar den einfachen, geradlinigen Rock’n’Roll, gelangte nun aber zu folgender Überzeugung: „Ich war naiv und glaubte, wir könnten einander unsere Gefühlen zum Ausdruck bringen und sie nicht zurückhalten oder unterdrücken.“ Harrison wollte seine Integrität wahren und fühlte schließlich auch das Bedürfnis und den Enthusiasmus, das, wovon er innerlich fest überzeugt war, nach außen zu lassen. Der schlichte, aber eindringliche Text wird getragen vom innigen Wunsch, Gott nah zu sein, Ihn zu erkennen.

Für George war es von zentraler Bedeutung, eine besonderen Sound, eine spezielle Atmosphäre zu schaffen. Dies gelang durch die Dominanz der Akustikgitarren, einer prägnanten Slidegitarre, den überaus kraftvollen Gesang Harrisons und den Wohlklang der Harmoniestimmen. Harrison ging es darum zu zeigen, dass „Halleluja“ und „Hare Krishna“ eigentlich das Gleiche bedeuten und bediente sich dabei eines geschickten Schachzugs: „Zunächst singe ich ‚Halleluja’ und wechsle später zu ‚Hare Krishna’, so dass jeder das Maha Mantra chantet, bevor er überhaupt weiß, was los ist. Ich hatte schon seit langer Zeit ‚Hare Krishna‘ gechantet und dieser Song entsprang der simplen Idee, ein popmusikalisches, westliches Äquivalent zum Mantra zu schaffen, welches heilige Namen schier endlos wiederholt.“ Im Christentum steht „Halleluja“ für eine freudige Lobpreisung Gottes. Das mystische Mantra „Hare Krishna“ hingegen steht darüber hinaus für den innigen Wunsch, Gottes Diener zu werden. Harrison, wie auch alle anderen Hare Krishna-Devotees, fühlte sich durch die freiwerdende spirituelle Energie des Chantens Gott näher, als es je in christlichen Gebeten und Gesängen möglich ist. Schon drei, vier Jahre später machte man Harrison den Vorwurf, er treibe seinen missionarischen Eifer zu weit und langweile mit seinen Predigten. Davon war 1970 nur wenig zu spüren. Rückblickend erklärte George Harrison in „I Me Mine“, dass er sich keine Vorwürfe zu machen brauchte. Im Gegenteil, der Song habe sogar Heroinabhängigen das Leben gerettet. Ihm war wichtig, sich“My Sweet Lord“ von der Seele zu schreiben und er war sich der enorm positiven Wirkung des Liedes jenseits des später geführten Copyright-Prozesses bewusst.

Denn das unschöne Begleitgeräusch von „My Sweet Lord“ war später der Vorwurf, George Harrison habe den Hit des Damenquartetts The Chiffons „He’s So Fine“ aus dem Jahre 1963 zu großen Teilen abgeschrieben, sowohl Melodie als auch Songstruktur betreffend. Aber auch daran war zum Zeitpunkt der Entstehung von „All Things Must Pass“ nicht zu denken. Andererseits verwundert es schon ein wenig, dass Phil Spector, dem Produzenten des Albums und Experten in Sachen „Girl Groups“, nicht schon in diesem Moment eventuelle Ähnlichkeiten auffielen.

Eric Clapton berichtete in einem Interview, dass im Laufe der Aufnahmen zu „My Sweet Lord“ aus dem Nichts ein Hare Krishna-Devotee im Studio herumsprang und sang. Der Ex-Cream-Gitarrist war kurz vor einer Panikattacke, während George nicht mit der Wimper zuckte. George Harrison war den Umgang mit den Hare Krishnas gewohnt. 1969/1970 war George nicht nur stark von der Hare Krishna-Bewegung beeinflusst, einige Devotees wohnten sogar auf seinem Anwesen in Henley.

Das nächste Stück, das stürmische „Wah-Wah“, entstand unmittelbar nachdem George am 10. Januar 1969 die „Get Back“-Sessions der Beatles verließ. In späteren Interviews erklärte Harrison immer wieder, er sei damals aus der Gruppe ausgestiegen. In der Tat war er die ewigen Streitereien leid und nach der in vorigen Kapitel beschriebenen dramatischen Entwicklung in der ersten Januarhälfte war die Auszeit für George auch notwendig. In dieser Phase der fortschreitenden Entfremdung schrieb George „Wah-Wah“. Ein „Wah Wah“-Pedal ist im eigentlichen Sinne ein Effektgerät für Gitarristen, welches z.B. besonders prominent in Jimi Hendrix’ „Voodoo Chile (Slight Return)“ eingesetzt wurde. „Wah-Wah“ verweist aber hier in erster Linie auf die Kopfschmerzen, die die Beatles-Differenzen Harrison bereiteten. So schreibt er in „I Me Mine“: „Ich beschloss ‚Das war’s! Es macht keinen Spaß mehr – es macht mich unglücklich in dieser Band zu sein – das alles ist ein großer Haufen Mist – schönen Dank, ich hau’ ab. ‚Wah-Wah’ steht für Kopfschmerz ebenso wie für das Fußpedal. Es wurde in der Phase geschrieben als John und Yoko nur noch wie blöd herumkreischten. Ich verließ die Band, ging nach Hause und schrieb das Lied.“ Der Text des Songs enthält Aussagen der Enttäuschung, aber auch der Entschlusskraft und Zuversicht:

“You Don’t See Me Crying
You Don’t Hear Me Sighing.“

(Du wirst mich nicht weinen sehen / Du wirst mich nicht seufzen hören)

„I don’t need no Wah-Wah
And I know how sweet life can be.
If I keep myself free of Wah-Wah.“

(Ich brauche kein Wah-Wah / Und ich weiß genau, wie süß das Leben sein kann / Wenn ich mich von diesem Wah-Wah befreie).

Mit „Isn’t It A Pity“ gelang George Harrison, nicht nur auf Grund seiner epischen Länge, ein wahrhaft majestätischer Song. Die hymnische Steigerung gipfelt interessanterweise in einem deutlich an die Schlusssequenz von „Hey Jude“ angelehnten Hintergrundgesang. Der Song ist aber mehr als eine bloße Parodie auf McCartneys Meisterstück. Bläser und Streicher sind sorgfältig arrangiert und George Harrisons Sildegitarrenspiel wird immer mehr zu einem Markenzeichen. Harrison spricht hier allgemein über an einem Tiefpunkt angekommene Beziehungen und über die Neigung der Menschen, die Herzen anderer zu brechen, zu nehmen ohne zu geben. „Isn’t It A Pity“ kann aber auch leicht als Reflexion der zuletzt unerfreulichen Erfahrungen im Zusammensein mit Georges ehemaligen Bandkollegen interpretiert werden. Egozentrisches Verhalten wird angeprangert und Bedauern darüber ausgesprochen, dass es überhaupt soweit kommen muss. Überhaupt ist es nicht das erste Mal, dass Harrison hier dieses Motiv verwendete. Schon in „Within You Without You“ (1967) heißt es, dass die Zeit der Erkenntnis kommen wird, dass das „Um-sich-selbst-kreisen“ falsch ist und dass alle Menschen gleich sind:

„And the people who hide themselves behind a wall of illusion
Never glimpse the truth (…)“

(Und alle, die sich hinter einer Wand der Illusion verbergen / Werden nie auch nur einen Schimmer der Wahrheit erfahren)

und weiter am Ende des Songs:

„And the time will come when you see we’re all one
And life flows on within you and without you.“

(Und die Zeit wird kommen, in der du erkennen wirst, dass wir alle eins sind / Und dass das Leben in dir und ohne dich weiterfließen wird).

Im Vergleich dazu „Isn’t It A Pity“:

„When not too many people can see we’re all the same
And because of all their tears, their eyes can’t hope to see
The beauty that surrounds them
Isn’t it a pity.“

(Es sind viel zu wenige, die erkennen, dass wir alle gleich sind / Und vor lauter Tränen sehen ihre Augen nicht die Schönheit, die sie umgibt / Ist das nicht schade?).

Ungleich fröhlicher geht es mit „What Is Life“ weiter, eine der ersten Aufnahmen für das Album. George schrieb den Song 1969 innerhalb kürzester Zeit auf dem Weg zu einer Session mit Billy Preston in den Londoner Olympic Studios. Es stand die Produktion des Preston-Albums „That’s The Way God Planned It“ an und George hatte eigentlich vor, diesen Titel Billy Preston zu überlassen, war aber bald der Ansicht, dass er nicht optimal zum übrigen Songmaterial passen würde. So nahm George dieses eingängige, packende Stück schließlich selbst auf.

Die sich anschließenden beiden Songs „If Not For You“ und „Behind That Locked Door“ sind eng mit Bob Dylan verknüpft, wie überhaupt festgestellt werden kann, dass Dylans Einfluss auf „All Things Must Pass“ unüberhörbar ist. Mit „If Not For You“ wurde zunächst ein Resultat der Sessions mit Dylan vor einigen Monaten wieder aufgegriffen und vollendet. „Behind That Locked Door“ entstand kurz nachdem Dylan die Aufnahmen zu „Nashville Skyline“ beendet und seinen Auftritt beim Isle Of White-Festival im August 1969 absolviert hatte. Nach seinem schlimmen Motorradunfall zog sich für lange Zeit aus der Öffentlichkeit zurück und erweckte bei manchem Musikfreund den Eindruck, er könne in seiner Einsiedelei versauern. „Nashville Skyline“ und der Auftritt beim Festival waren erste Schritte, so ist Harrisons „Behind That Locked Door“ als direkter Appell an Dylan gemeint gewesen, diese unglückliche Zeit endgültig hinter sich zu lassen:

„Why are you still crying?
Your pain is now through
Please forget those teardrops
Let me take them from you.“

(Warum weinst du immer noch? Dein Schmerz ist vorüber / Bitte vergiss diese Tränen / Lass mich sie fortwischen)

Ungewohnt für George Harrison war das instrumentale, durch Pete Drakes Pedal Steel Guitar stark country-eingefärbte Gewand des Songs.

Neben „Wah-Wah“ sind die härtesten Gitarren auf „Let It Down“ vertreten. Der Hörer wird von Phil Spectors berühmt-berüchtigter „Wall Of Sound“ förmlich erschlagen. Wie es aber im Anfangsstadium geklungen hat, zeigt eindrucksvoll die Bootleg-Edition „The Making Of All Things Must Pass“, die auf drei CDs Alternativaufnahmen von „All Things Must Pass“-Songs präsentiert. Hier sind mehrere rhythmisch verlangsamte, ungeschliffene Fassungen von „Let It Down“ zu hören, die durchaus ihren eigenen Reiz haben.

Nach diesem nervös-hektischen Titel wird bei dem sich anschließenden „Run Of The Mill“ die Schlagzahl deutlich herabgesetzt. Harrison mochte den poetischen Text der Ballade, die erneut einen bitteren Blick zurück auf die Querelen in den letzten zwei Beatlesjahren wirft:

„Tomorrow when you rise
Another day for you to realize me
Or send me down again.

As the days stand up on end
You’ve got me wondering how I lost your friendship
But I see it in your eyes.“

(Morgen, wenn du erwachst / Ist ein weiterer Tag, mich zu erkennen / Oder mich wieder fallen zu lassen / Am Ende eines Tages / Frage ich mich, wie ich deine Freundschaft verlieren konnte / Aber ich erkenne es in deinen Augen).

Ruhig geht es weiter. Die wunderschöne Melodie von „Beware Of Darkness“ ist von Marianne Faithfull, über Leon Russell, Concrete Blonde bis hin zur hochinteressanten Version der Prog-Rockband Spock’s Beard häufig gecovert worden. Der Song stammt aus dem vorangegangenn Jahr, als Mitglieder des Radha Krishna Temple bei George Harrison wohnten. Erneut eingebettet in Textdichtung auf hohem Niveau wird das einfache, doch beeindruckende Solo von der Zeile „Beware Of Maya“ (Nimm dich vor Maya in acht) eingeleitet. Nach der Lehre des Hinduismus spielt die Maya genannte kosmische Illusion eine bedeutende Rolle. Die Theorie geht davon aus, dass das All aus dem Traum des Schöpfergottes und Magiers Brahma kommt. Vishnu als Bewahrer dieses Traums webt gleichsam ein Netz, welches dem Menschen als Wirklichkeit erscheint. Die Welt selbst ist keine Illusion, jedoch aber die Art und Weise, wie sie wahrgenommen wird. Nur scheinbar besteht die Welt aus voneinander unabhängigen Strukturen, Dingen und Ereignissen, ist aber tatsächlich eine Einheit.

Schon seit den Aufnahmen der Beatles zum Weißen Album hielt sich eine Gruppe von weiblichen Fans regelmäßig und dauerhaft vor den Abbey Road Studios auf. Ihre Erlebnisse aus dieser Zeit schrieb Carol Bedford 1984 in ihrem Buch „Waiting For The Beatles“ nieder. Das unerlaubte Eindringen der Mädchen in McCartneys Haus in der nahe der Abbey Road gelegenen Cavendish Avenue fand bereits in dessen Beatles-Song „She Came In Through The Bathroom Window“ Berücksichtung. Ein solches Delikt ist nicht nett, aber die Beatles, speziell George Harrison, wussten irgendwann die Ergebenheit und Treue dieser weiblichen Fans zu schätzen.

Die Aufnahmen zu „All Things Must Pass“ fanden nachts statt. Carol Bedford berichtet, dass die Apple Scruffs bis zum Morgengrauen ausharrten, um schließlich George Harrison zu verabschieden. Eines Morgens verschlief Carol, hetzte zur Abbey Road und lief beinahe vor ein Auto, dessen verärgerter Fahrer sich zu ihrer Verblüffung als Harrison selbst herausstellte. Die Situation entspannte sich allerdings schnell und als Trost für den erlittenen Schreck schenkte George dem in völlige Verzückung geratenen Fan eine Ausgabe von Yoganadas „Autobiographie eines Yogi“. Sein Kommentar, er habe das Buch bisher siebenmal gelesen und würde es nur an Freunde verschenken, die es ihm wirklich wert seien, übertraf alles, was sich Carol Bedford jemals erträumte. Die erstmals 1946 veröffentlichte Schrift gilt als ein Klassiker der spirituellen Literatur. Der aus Indien stammende Verfasser, Paramhansa Yogananda (1893 – 1952), lebte die letzten 32 Jahre seines Lebens in den USA, wo er wesentlich dazu betrug, dass Yoga und Meditation in die westliche Welt eingeführt wurden. In seinem Buch offenbarte Yogananda die Existenz Babajis, eines christusähnlichen Heiligen, der nach vielen Lehr- und Wanderjahren Unsterblichkeit erlangte und über Jahrhunderte hinweg viele spirituelle Lehrer aus der Ferne anleitete. Yogananda, dem Babaji selbst erschien, unterstrich die zugrunde liegende Einheit der Religionen und hatte das Ziel, allen ernsthaften Suchern, ungeachtet des jeweiligen religiösen Hintergrunds, eine persönliche, direkte Erfahrung mit Gott möglich zu machen. Es war keine Frage, dass eine solche Publikation George Harrison schnell in ihren Bann zog.

Im Sommer 1970 kam George häufig nachts aus dem Studio und unterhielt sich mit den Scruffs. Phil Spector hingegen wurde krank und musste immer öfter nach Hause gefahren werden. George erzählte vom selbstzerstörerischen Umgang Spectors mit Drogen und dessen Trauma, dass sich sein Vater vor seinen Augen erschoss. Speziell seit den durch angebliche Botschaften in Beatlessongs wie McCartneys „Helter Skelter“ oder Harrisons „Piggies“ motivierten Morden von Charles Manson und seiner so genannten „Family“ litt Phil Spector unter Angst und Verfolgungswahn. Besucher empfing er in seinem durch elektrische Zäune gesicherten Anwesen nicht selten mit einem Messer in der Hand. Dass auch der Revolver bei Spector inmer locker saß, musste ebenfalls John Lennon bei seinen von Phil Spector betreuten Aufnahmen zum 1975er Album „Rock’n’Roll“ erfahren. Im Frühjahr 2003 geriet Spector sogar unter Mordanklage, als die Leiche einer Schauspielerin in seinem Haus in Beverly Hills gefunden wurde. Im Mai 2009 wurde der legendäre Musikproduzent für schuldig befunden und zu 19 Jahren bis Lebenslang verurteilt.

Glaubt man den Aussagen Carol Bedfords, so zeigte sich George Harrison sehr offen und führte mit ihr Gespräche, die erstaunlicherweise weit über Smalltalk hinausgingen. So sprach er davon, wie sehr ihn der Tod seiner Mutter traf und unter welchen Ängsten und Depressionen er litt. Einer der Beatles zu sein, war für ihn zu diesem Zeitpunkt eine Last, er fürchtete, die an ihn gerichteten Erwartungen nicht erfüllen zu können. Stimmt all das, was durch Carol Bedford überliefert ist, so ist George Harrison der einzige Beatle gewesen, der einen derart engen und aufrichtigen Umgang mit seinen Fans pflegte. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, denn später im Londoner Soho-Distrikt die Arbeiten an „All Things Must Pass“ im Trident Studio fortgesetzt wurden, wurden die anwesenden Apple Scruffs sogar ins Studio gebeten, wo ihnen das Playback des Songs präsentiert wurde, der zeigt, wie hoch Harrison diese Gruppe von Fans wertschätzte:

„You’ve been stood around for years
Seen my smiles and touched my tears
How it’s been a long long time
And how you’ve been a long time
And how you’ve been on my mind
My Apple Scruffs“

(Seit Jahren steht ihr hier / Habt mein Lachen gesehen, meine Tränen berührt / Wie lange es schon her ist / Wie lange ihr schon da seid / Wie sehr ihr in meinen Gedanken seid / Meine Apple Scruffs).

Was die Instrumentierung angeht, so stand hier einmal mehr Bob Dylan Pate: Mundharmonika, akustische Gitarre und minimale Percussion-Begleitung.

Dem ursprünglichen Eigentümer von Friar Park, Sir Frank Crisp, widmete Harrison die „Ballad Of Sir Frankie Crisp (Let It Roll)“. Der als Exzentriker und Gartennarr bekannte Anwalt ließ 1896 auf dem Grundstück eines ehemaligen Klosters Friar Park erbauen. Ganz stilecht verwendete Harrison im Songtext altes, an Shakespeare erinnerndes Vokabular und lässt darin den Hörer durch Friar Park und seine Anlagen lustwandeln:

„Let it roll across the floor
Through the hall and out the door
To the fountain of perpetual mirth.

(…)

Let it roll down through the caves
Ye long walks of coole and shades
Through ye woode, here may you rest a while“

[Lass dich treiben über den Boden / Durch die Halle und aus der Tür / Hin zum Brunnen der immerwährenden Freude (…) Lass dich treiben hinunter durch die Höhlen / Euch weite Wege der Kühle und des Schattens / Durch euch Wälder, wo du ein wenig verweilen kannst].

1968 erwarb Harrison für eine Summe von 200.000 £ das baufällige, mit einer Unmenge von Türmchen und Wasserspeiern besetzte 120-Zimmer-Anwesen und ließ es von Grund auf sanieren. Keine Arbeit, die von heute auf morgen getan war, denn ein 13 Mann starkes Team brauchte gut zwanzig Jahre um die Vision Frank Crisps wiederherzustellen. Dazu gehörte die Restaurierung eines unterirdischen Kabinetts von Kuriositäten: ein Labyrinth, Höhlen, Seen und Wasserfälle – allesamt durch einen unterirdischen Fluss verbunden. Nur wenigen Menschen ist bisher Einblick gewährt worden, jedoch ist verschiedenen Beschreibungen zu entnehmen, dass in einer Höhle Skelette und Spiegel untergebracht sind, in einer anderen Weinstöcke mit illuminierten Beeren, weiterhin eine Eisgrotte und eine Zwergenhöhle, denn Frank Crisp besaß eine der größten Sammlungen von Gartenzwergen. Vier überdimensionale Vertreter davon, George Harrison umringend, sind auf dem Plattencover von „All Things Must Pass“ zu sehen (die Anzahl bot übrigens Anlass für Interpretationen, die Zwerge stünden für John, Paul, George und Ringo). Es ist überliefert, dass Crisp Gäste auf Bootstouren einlud, die am oberen Ufer eines Sees begannen, der auf drei verschiedene Ebenen angelegt war. Ab und zu ließ Crisp einen Gärtner nicht weit vom eigenen Boot entfernt mitrudern. Auf ein abgesprochenes Signal hin ruderte der Fährmann von Crisp und seinen Gästen auf eine tiefer gelegene Ebene des Sees. Der Gärtner im anderen Boot duckte sich und Frank Crisp freute sich dann wie ein Schneekönig, wenn seine Gäste glaubten, der Ruderer habe sich in Luft aufgelöst. Unter- und überirdisch befanden sich zudem Trittsteine, auf denen, einem Glockengeläut gehorchend, ein Butler mit einem Tablett Drinks herannahte. Dabei machte es den Eindruck, als liefe der Mann auf der Wasseroberfläche. Der spektakulärste Bestandteil des Friar Park-Gartens ist jedoch eine Nachbildung des Schweizer Matterhorns. Fast 10 Meter hoch, umgeben von 40.000 Pflanzen, errichtet aus 7.000 Tonnen Yorkshire-Gestein und gekrönt von einem Felsstück vom Gipfel des echten Matterhorns. Das Haus selbst, eine Mischung aus französischer Renaissance und Spätgotik, hat etliche Türgriffe und Lichtschalter in Form von Mönchsköpfen aus Messing, welche möglicherweise auf den Ursprung von Friar Park Bezug nehmen. Außen am Gebäude ist eine Statue platziert, die einen Mönch darstellt, der eine völlig durchlöcherte Bratpfanne in der Hand hält (abgebildet im Innencover des 1976er Soloalbums „Thirty Three And A Third“). George Harrison gefiel Crisps Sinn für Humor und Schrulligkeit und er erwies sich auch als würdiger moderner Nachfolger. So ließ er beispielsweise Formel 1-Reifen als Türstopper einbauen. Dem Henley-Besucher bleibt all dies verborgen. Vom Ortskern ist Harrisons Toreinfahrt vielleicht nur 400 oder 500 Meter entfernt, dennoch ist das große Portal von Friar Park nicht ganz so leicht zu finden. Steht man dann doch davor, so fällt der Blick auf ein vorgelagertes, direkt links hinter der Toreinfahrt befindliches kleinerer Gebäude, welches erahnen lässt, welche Pracht sich irgendwo dahinter befindet. Es wäre zu begrüßen, wenn dieses Anwesen, zumindest die Außenanlagen, irgendwann der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

Phil Spector war von „Ballad Of Sir Frankie Crisp (Let It Roll)“ sehr angetan und erwähnte gegenüber Harrison, dass er eine Menge Coverversionen erwarten könne, sollte er den Text ändern. George Harrison ließ sich nicht überreden und vielleicht ist es auch gerade dieser Beharrlichkeit zu verdanken, dass der Song zu den Glanzlichtern des Albums zählt, wenn auch bei diesem Titel der Einsatz der Pedal Steel Guitar für Rock-Puristen leicht gewöhnungsbedürftig sein mag.

Phil Spectors Bombast-Sound ist beim nächsten Song „Awaiting On You All“ einmal mehr auffällig. Nach Harrisons eigenen Worten geht es in diesem durchaus singletauglichen und flotten Titel um Kraft und Freude des Chantens, die Japa Yoga Meditation. Dies ist die rosenkranzähnliche Wiederholung von Mantras. Das auf unterschiedliche Weise übersetzbare Wort Mantra steht für einen Gedanken, welcher von einem Wort umschlossen wird und von tiefer spiritueller Bedeutung ist. Gerade der Klang des Worts spielt in der Gedankenwelt der Hindus eine wichtige Rolle. Aus diesem Grund ist die Wortbedeutung sekundär, wichtig ist der Klang. Am bekanntesten ist das Grundmantra „Om“ [mächtigstes Mantra der Buddhisten ist übrigens „Om Mani Padme Hum“ (Om! Du Juwel in der Lotusblüte)]. Nach deren Auffassung wurde durch die Schwingung dieses Klangs das All erschaffen – „Om“ ist die Keimsilbe des Universums. Gläubige, die dieses Mantra rezitieren, haben Teil an der Macht der Schöpfung. In „Awaiting On You All“ appelliert Harrison, dass es keine Kirche und keinen Tempel braucht um zu erwachen und sich von allem Materiellen zu befreien. Typisch für Harrisons Glaubensauffassung ist die Betonung auf innere Einkehr und die Gleichwertigkeit der Religionen bzw. ihrer Erlöser:

„You don’t need no passport
You don’t need no visas
You don’t need to designate or to emigrate
Before you can see Jesus.

(…)

By chanting the names of the Lord
And you’ll be free
The Lord is awaiting on you all to awaken and see.“

(Du brauchst keinen Ausweis / Du brauchst kein Visa / Du brauchst keinen Titel und auch nicht emigrieren / Bevor du Jesus sehen kannst (…) Indem du die Namen des Herrn chantest / Wirst du frei sein / Der Herr erwartet euch alle um zu erwachen und zu erkennen).

Unter Umständen war der Text zu belehrend und zu missionarisch, um als Single ausgekoppelt zu werden. Musikalisch hätte er sicherlich das Potenzial gehabt.

„All Things Must Pass“, das Titelstück des Albums, nahm während der unerfreulichen „Get Back“-Sessions der Beatles Formen an. Eine recht manierliche Version ist auf der Beatles „Anthology 3“ zu hören. George Harrison nahm aber schon im Februar 1969, genauer an seinem 26. Geburtstag, eine Solo-Demoversion auf. Die von Harrison selbst veröffentlichte Aufnahme dieser hochklassigen Komposition kann als definitive Fassung des Songs betrachtet werden. Phil Spector trug bei der Abmischung nicht zu dick auf und über allem schwebt, insbesondere nach dem schwungvollen „Awaiting On You All“, eine ruhige, beinahe versöhnliche Grundstimmung. Pete Drakes Steel Guitar klingt weniger nach Country wie z.B. in „Ballad Of Sir Frankie Crisp (Let It Roll)“, hinterlässt jedoch einen überaus prägnanten Eindruck. Die Qualität des Songs erkannte auch Paul McCartney, der, für ihn unüblich, den Titel z.B. 2003 bei seinem Konzert im Colosseum von Rom spielte – als Tribut an den verstorbenen Freund. Zwar schreibt George Harrison in „I Me Mine“, dass sein Antrieb war, einen Song in der Art des The Band-Gitarristen Robbie Robertson zu schreiben. Möglich ist aber auch, dass der Text die Harrisons Psyche belastende Beatles-Spätphase reflektiert und ein hoffnungsvoller Neuanfang eingeläutet wird:

„Now the darkness only stays at night time
In the morning it will fade away
Daylight is good at arriving at the right time
It’s not always going to be this grey
All things must pass, all things must pass away.“

(Nun bleibt die Finsternis nur während der Nacht / Am Morgen wird sie verschwinden / Das Tageslicht hat Übung darin zur rechten Zeit zu kommen / Es wird nicht immer so trübe bleiben / Alle Dinge müssen vergehen, alle Dinge müssen einmal zu Ende sein).

Ein lockeres, Bluesrock-orientiertes Stück schließt sich mit „I Dig Love“ an. Der Text geht diesmal nicht in die Tiefe, sondern besteht im Wesentlichen nur aus der Wiederholung der Titelzeile.

Weitaus nachdenklicher ging Harrison bei „Art Of Dying“ zu Werke. Der leicht überproduziert wirkende Song steht für Harrisons lebenslange Suche nach dem Sinn des Lebens hinter seiner Beatle-Existenz. Ein früher Textentwurf enthält sogar eine Referenz an Beatles-Manager Brian Epstein „Then nothing Mr. Epstein can do / to keep me here with you“ (Dann schafft es auch Mr. Epstein nicht / Dass ich bei euch bleibe). Eine trotzige, deutliche Absage an die Gruppe Beatles, wohl aber auch gefärbt durch die unschönen Erlebnisse der letzten Beatles-Tournee 1966 z.B. auf den Philippinen. Der Name Epsteins wurde für „All Things Must Pass“ hingegen durch das unverfängliche „Sister Mary“ und ein allgemeines „You“ ersetzt.  In seiner Autobiographie spricht George Harrison davon, dass wohl jeder über das Sterben in Sorge ist. Die Kunst des Sterbens bestünde jedoch darin – und Harrison hat dieses bei seinem eigenen Tod unter Beweis gestellt – bewusst seine irdische Hülle zu verlassen und bereit zu sein für die Reinkarnation. Dies setzt voraus, dass sich das eigene Karma, das Gesetz von Ursache und Wirkung, im Reinen befindet. George Harrison benutzt einen bildhaften Vergleich: „Wenn du geboren wirst, ist dein Leben (vergangenes Karma) wie eine Schnur voller Knoten und bevor du stirbst, musst du versuchen all diese Knoten zu lösen. Während du aber dabei bist, einen zu lösen, schnürst du zwanzig weitere.“ Dieses Problem könne nur dann umgangen werden, wenn ein fortgeschrittenes spirituelles Level erreicht wird. Es nützt nichts, im Moment des Todes diesem oder jenem (materiellen) Versäumnis nachzutrauern. Auf diese Weise bekommt die „Lebensschnur“ nur weitere Knoten, die gelöst werden müssen. Im letzten Vers des Songs wird schließlich die Wiedergeburt angesprochen:

„There’ll come a time
When most of us return here
Brought back by our desire to be
A perfect entity
Living through a million years of crying
Until you’ve realized the art of dying.“

(Es wird eine Zeit kommen / Wenn die meisten von uns doch zurückkehren / Geleitet von unserem Wunsch / Ein perfektes Dasein zu führen / Millionen Jahre des Schmerzes durchleben / Bis du endlich die Kunst des Sterbens erkennen wirst).

Die zweite auf „All Things Must Pass“ enthaltene Version von „Isn’t It A Pity“ ist textlich mit der ersten identisch. Das Arrangement ist jedoch deutlich sparsamer und zurückhaltender. Schon in der Vorproduktionsphase des Albums nahm George Harrison, sich selbst an der elektrischen Gitarre begleitend, einer reizvolle Demofassung von „Hear Me Lord“ auf. Harrisons in „My Sweet Lord“ euphorisch geäußerter Wunsch, Gott endlich zu sehen findet seine Entsprechung in „Hear Me Lord“. In direkter Anrede des Herrn bittet George Harrison um Nachsicht für all die Jahre, in denen er Gott ignoriert hat und bezieht aber auch die Menschen ein, denen Gott wenig bedeutet. In seinen Notizen zu „Art Of Dying“ merkt Harrison an, dass es schon in Ordnung sei, durch ein Leben ohne Gott zu gehen, solange man sich im Moment des Todes bewusst zu Ihm bekennt. Für Harrison jedoch gab es im Alter von 27 Jahren kein größeres Verlangen, als Gott zu erfahren, von Ihm erhört zu werden:

„At both ends of the road
To the left and the right
Above and below us
There’s no place that you’re not in
Won’t you hear me Lord.“

(Am Anfang und Ende des Weges / Zur Linken und Rechten / Über und unter uns / Drinnen und draußen / Kein Ort, der nicht von dir erfüllt ist / So erhöre mich bitte, Herr).

Das mit äußerster Leidenschaft vorgetragene Stück bildet einen würdigen Abschluss der regulären Studiosongs von „All Things Must Pass“.

Die später veröffentlichte 3-LP-Box enthält auf der dritten LP eine mit dem schönen Wortspiel „Apple Jam“ betitelte Sammlung von fünf Jam Sessions. „Out Of  The Blue“, das erste Stück, ist mit über elf Minuten Spielzeit die längste unter diesen Improvisationen. Unter lauter instrumental gehaltenen Jams ist „It’s Johnny’s Birthday“ die Ausnahme. Basierend auf dem von Cliff Richard 1968 bekannt gemachten Gassenhauer „Congratulations“ und aufgenommen am 9. Oktober 1970 war dies Harrisons Art, seinem ehemaligen Bandkollegen John Lennon zum 30. Geburtstag Glück zu wünschen. Dieses kurze, an Drehorgel- oder Rummelplatzmusik erinnernden Lied nahm George Harrison, leicht unterstützt von Ringo, Ex-Beatles-Roadmanager Mal Evans und Toningenieur Eddie Klein, fast im Alleingang auf. Nahtlos daran anschließend folgt „Plug Me In“, das nach viel versprechendem furiosen Anfang doch etwas zäh wirkt. Das weiße Rauschen, welches „I Remember Jeep“ einleitet, erinnert stark an die Moog Synthesizer-Experimente von „Electronic Sound“ aus dem Vorjahr. Das Eric Claptons Hund Jeep gewidmete Stück wartet mit einer kleinen Cream-Reunion auf: Neben Eric Clapton, dessen Gitarrenspiel sich hier hervorragend mit dem George Harrisons ergänzt, ist Ginger Baker am Schlagzeug vertreten. Mit einer Chuck Berry-Anleihe beginnt „Thanks For The Pepperoni“, sicherlich einer der ungewöhnlichsten Songtitel eines Ex-Beatles. Die Begleitband dieser Session bestand aus der bereits bekannten Derek & The Dominos-Besetzung. Ähnlich wie „Plug Me In“ bietet „Thanks For The Pepperoni“ eher wenig Aufregendes.

Einige weitere Songs wurden im Rahmen der „All Things Must Pass“-Sessions aufgenommen, fanden ihren Weg jedoch nicht auf das Album. Entweder befanden sich diese so genannten Outtakes im unfertigen Zustand oder sie waren für eine Veröffentlichung nicht stark genug. Darunter befand sich allerdings mit „I Live For You“ doch ein kleines Juwel. Wieder einmal prägt Pete Drakes Steel Guitar eine in der Tradition von „Behind That Locked Door“ stehende Harrison-Ballade, die dennoch ansatzweise den Eindruck erweckt, als wäre sie nicht ganz ausgearbeitet. Ungeachtet dessen harmoniert „I Live For You“ mit den übrigen Songs. Harrison selbst mag das erkannt haben, als er sich dreißig Jahre später entschied, den schönen Titel in die CD-Wiederveröffentlichung des Albums aufzunehmen.

Erwähnenswert ist „Down To The River“, dessen Grundmelodie George Harrison für sein letztes, posthum erschienenes Album „Brainwashed“ wieder aufgriff. Obwohl von „Whenever“  (auch bekannt als „When Every Song Is Sung“) 1970 über 40 Takes aufgenommen wurden, blieb auch dieser Song unvollendet und wanderte in die Schublade, bevor er als „I’ll Still Love You“ Harrisons Beitrag zu Ringo Starrs 1976er LP „Ringo’s Rotogravure“ wurde. Ein Überbleibsel der Indien-Reise von 1968 war „Dehra Dhun“. Dieser einfache Song bezieht sich auf eine Ortschaft in der Nähe von Rishikesh. Die Beatles unternahmen keinen Versuch, das Stück aufzunehmen. Die Öffentlichkeit nahm in einer Filmszene der Beatles-„Anthology“ erstmals Notiz von „Dehra Dhun“, als George Harrison 1994 in seinem Garten den Song auf der Ukulele anstimmt. Paul McCartneys spontane Liedbegleitung legt jedoch nahe, dass ihm der Titel nicht ganz unbekannt war.

Es war nicht ganz falsch, „Om Hare Om (Gopala Krishna)“ uveröffentlicht zu lassen. Basierend auf dem Sanskrit „Gopala Krishna“ (übersetzbar als „Der den Sinnen Freude schenkender Oberste Herr“) wirkt der Song aufgrund seiner chantähnlichen Wiederholungen bei mehrmaligem Hören leicht ermüdend. Bemerkenswert ist schließlich „Going Down To Golders Green“. Dieser Song zeigt ähnlich wie in „Down To The River“ einen locker aufgelegten George Harrison. Melodie und Arrangement haben starke Ähnlichkeit mit Elvis Presleys „Baby Let’s Play House“. Einer der ganz wenigen Momente in Harrisons Solokarriere, in denen er traditionell klingenden Rock’n’Roll spielt.

Mit „All Things Must Pass“ erreichte George Harrison einen einzigartigen künstlerischen Höhepunkt. Auch später veröffentlichte Harrison gute und auch sehr gute Alben, doch zu keinem späteren Zeitpunkt erreichte der die meisterliche Klasse und atmosphärische Dichte seines ersten regulären Soloalbums. Auch kommerziell gesehen war das Album eine Ausnahmeerscheinung. Es war Anfang der 70er Jahre keineswegs üblich, derart üppig ausgestattete Alben herauszubringen. Die mit drei LPs und einem großen Poster versehene Hartbox hatte ihren stolzen Preis und trotzdem wurde sie zu einem Verkaufsrenner. In Deutschland reichte es nur zu einem zehnten Platz, doch in den USA, in England, Australien, Kanada, Italien und Norwegen führte „All Things Must Pass“ die Album-Charts an. Erfolreichste Single wurde „My Sweet Lord“: Platz 1 in Deutschland, USA, England, Norwegen, Schweiz, Irland und Australien. Das beste Ergebnis der Single „What Is Life“ war ein erster Platz in der Schweiz (in Deutschland Platz 3) und eine „halbe“ Nummer 1 in England, da der Song dort als B-Seite von „My Sweet Lord“ veröffentlicht wurde.

Anspieltipps:

My Sweet Lord / What Is Life / Isn’t It A Pity / Beware Of Darkness / All Things Must Pass / Apple Scruffs / Ballad Of Sir Frankie Crisp (Let It Roll)

Bewertung:

Pressestimmen:

„Fueled perhaps by songwriting ambition pent up during his long time as the most stellar of sidemen, this six-sided would-be epic sprawls and swoops unevenly, but its very giganticism now seems thrilling.“  – Rolling Stone Album Guide (****)

„It’s a beautifully musically-dressed album.“  – New Musical Express, 5. Dezember 1970

4 Antworten zu 1970 – „All Things Must Pass“

  1. Friedhelm sagt:

    Hallo Ansgar,
    ersteinmal Vielen Dank für die tolle Darstellung und Aufbereitung der Albumbesprechung : echt klasse und voller Hinweise und Themen , die das Werk würdigen. Ich habe einfach mal eine Frage:
    Du schreibst oben …„Ballad Of Sir Frankie Crisp (Let It Roll)“, hinterlässt jedoch einen überaus prägnanten Eindruck. Die Qualität des Songs erkannte auch Paul McCartney, der, für ihn unüblich, den Titel z.B. 2003 bei seinem Konzert im Colosseum von Rom spielte – als Tribut an den verstorbenen Freund… Ich habe versucht, dazu näheres zu finden, auch in der mir vorliegenden Konzert Aufnahme. Kannst Du mir hier eine weiter Info geben? Beste Beatles Grüße aus dem Bergischen von Friedhelm
    PS: Danke für diese tolle Website!!

    • admin sagt:

      Hi Friedhelm,
      vielen Dank für deine Worte! Deine Frage verstehe ich allerdings nicht ganz. Was möchtest du konkret zum Konzert im Colosseum wissen?
      Beste Grüße,
      Ansgar

      • Friedhelm sagt:

        Hallo Ansgar,
        hat Paul in Rom den Song „Ballad Of Sir Frankie Crisp (Let It Roll)“ gespielt?
        In Deiner Albumbesprechung erwähnst Du das (siehe meinen ersten Kommentar oben). In meinem Rom-Bootleg kann ich dazu nichts finden. Ich bin aber an der Version interessiert.
        Beste Grüße an Dich
        Friedhelm

        • admin sagt:

          Hi Friedhelm,
          entschuldige die späte Anwort. Vielleicht ist mein Text an der Stelle missverständlich. Ich meinte lediglich, dass die Pedal Steel Guitar auf „All Things Must Pass“ weniger nach Country klingt als auf „Let It Roll“. Im Colosseum wurde natürlich wie auch bei dem Rest der Tour „All Things Must Pass“ gespielt.
          Viele Grüße,
          Ansgar

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