1970 – „McCartney“

McCartney

Veröffentlicht:  17. April 1970
LP: Apple 1C 062 – 04394 (Deutschland)
CD: EMI 0777 7 89239 2 3 (Digitally Remastered)

Titel:
The Lovely Linda / That Would Be Something / Valentine Day / Every Night / Hot As Sun/Glasses / Junk / Man We Was Lonely / Oo You / Momma Miss America / Teddy Boy / Singalong Junk / Maybe I’m Amazed / Kreen-Akrore

Schon eine Woche nach seiner Bekanntgabe der Beatles-Trennung ging Paul McCartney mit seinem ersten regulären Soloabum an den Start. Welche Außenwirkung ruft so etwas hervor? Nun, keine gute. Man könnte sogar mutmaßen, dass dies die ersten Antipathien gegen Paul McCartney schürte (der heute ja immer noch in den Sympathien weit hinter John Lennon liegt).

Paul McCartney war höchstwahrscheinlich wie auch seine drei Kollegen nicht wenig genervt davon, wie sie, die Beatles, zumindest bis zum Ende ihrer Konzert-Karriere von der Presse behandelt wurden. Ewig die gleichen Fragen und kaum jemand schien sich wirklich für die Musik der Gruppe zu interessieren. Auch war ihm klar, dass man gerade ihm, der die Trennung der in aller Welt innig geliebten Band besiegelte, buchstäblich die Tür einrennen würde. Zudem kam „McCartney“ der Veröffentlichung der letzten (aber bereits vor „Abbey Road“ aufgenommenen) LP „Let It Be“ in die Quere. Damit brachte er auch seine Bandkollegen auf die Palme. Doch das ist eine andere Geschichte. So formulierte Paul bzw. der Pressemann der Beatles, Derek Taylor, kurzerhand selbst einen für die schreibende Zunft, und damit für die Öffentlichkeit gedachten Frage- und Antwortbogen. Dieser wurde den Promotionexemplaren seines Albums beigelegt. Er thematisierte die Trennung der Band, die wenig rosigen Perspektiven für eine weitere Zusammenarbeit sowie natürlich sein Soloalbum. McCartney umging damit zwar lästige Pressekonferenzen, doch war damit auch nicht aller Sorgen entledigt.

Denn: Was konnte man von dem Mann erwarten, der der Welt Songs geschenkt hat wie „Yesterday“, „Here, There And Everywhere“, „Penny Lane“, „Hey Jude“ oder „Let It Be“? Von dem Mann, der auch Songs schrieb und sang, die rockten  wie der Teufel: „I Saw her Standing There“, „I’m Down“, „Back In The U.S.S.R.“, „Helter Skelter“ oder „I’ve Got A Feeling“? Von dem Mann, der die treibende Kraft war hinter Alben wie „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ oder „Abbey Road“? Doch nichts anderes als einen Reigen weiterer unsterblicher Meisterwerke. Doch „McCartney“ wurde zu großen Teilen verrissen. Warum?

Aus keinem anderen Grund als den der falschen Erwartungen (ähnlich der Enttäuschung vieler über „neue“ Beatles-Songs für die „Anthology“ Anno 1995/96). McCartney legte es gar nicht darauf an, an das Niveau der Beatles nahtlos anzuschließen oder gar zu toppen. Was er schließlich auf den Markt brachte, war im Grunde nichts anderes als eine Sammlung besserer Demos, die allerdings zumindest zwei Stücke enthielten, die alles überragten und zweifelsohne auch auf zukünftigen Beatles-Alben würdige Vertreter des außergewöhnlichen Songschreiber-Talents Paul McCartneys gewesen wären: „Junk“ und der vielleicht beste Solo-Song McCartneys überhaupt: „Maybe I’m Amazed“.

Zur Entstehung: Die Songs nahm Paul McCartney zwischen Dezember 1969 und Februar 1970 an drei Orten auf: in seinem eigenen Heimstudio in der Londoner Cavendish Avenue (dieses Haus nahe der Abbey Road bewohnt er immer noch – sofern er sich in London aufhält), in den Morgan Studios und schließlich in den Abbey Road Studios. Er verwendete hier übrigens ein Pseudonym: Billy Martin. Ein vertrautes Umfeld ist Paul McCartney stets wichtig und so verwundert es nicht, dass er gerade diese Orte auswählte. Den Großteil nahm Paul in seinem Heimstudio mit einer Studer Vierspur-Maschine auf. Alle Instrumente spielte er im Alleingang ein. Nur minimale gesangliche Unterstützung kam von seiner Frau Linda.

„McCartney“ enthält u.a. mit „Junk“ und „Teddy Boy“ einige Songs, die zwar zwischen 1968 und 1969 geschrieben, aber nie richtig von den Beatles aufgenommen wurden. In erster Linie wollte Paul McCartney ausprobieren, was er selbst mit seinen Songs oder Songfragmenten anstellen könnte. Eine „saubere“ Produktion schwebte ihm eigentlich nicht vor. So wurden die Mikrophone in Ermangelung eines Mischpultes direkt an das Vierspurgerät angeschlossen. Erst später entschied sich McCartney, diese Aufnahmen zu seiner ersten richtigen Solo-LP werden zu lassen. Doch es blieben wenig ausgefeilte Songs und Spielereien, die manchmal sogar ein wenig albern und substanzlos wirken. Ungeachtet der Verrisse erreichte „McCartney“ die Spitzenposition der Album-Charts. Heute wird dieser Platte mit mehr Wohlwollen begegnet. Man schätzt die direkte, intime One-Man-Show.

Das Album beginnt mit einem melodischen Leichtgewicht. Gerade mal 47 Sekunden währt dieses unbekümmerte Liebeslied an die „liebliche Linda mit den lieblichen Blumen in ihrem Haar“. Ein privates Kleinod, das gar nichts Besonderes sein will und trotzdem den Weg auf das McCartney-Debütalbum fand. Manchmal reichen Paul McCartney eine oder zwei Textzeilen, um daraus einen Song zu machen (so z.B. geschehen auf dem Weißen Album der Beatles mit „Why Don’t We Do It In The Road“). Bei der bluesigen Nummer „That Would Be Something“ ist das genauso. 21 Jahre später grub Paul McCartney dieses nicht uninteressante Stück anlässlich seines MTV „Unplugged“-Konzertes wieder aus. Der britische Bluesboom Ende der Sechziger Jahre ist sicher nicht spurlos an Paul McCartney vorbeigegangen. So könnte man meinen, er präsentiert er sich als Epigone des Alvin Lee-Stils in dem Instrumental „Valentine Day“. Schon eindrucksvoll, wie er (insbesondere ab 1:20 Min.) seine Fähigkeiten als Sologitarrist aufblitzen lässt – ohne allerdings je die Ausdruckskraft eines Alvin Lee, eines Eric Clapton oder eines Peter Green zu erreichen. „Every Night“ ist eine schöne und durcharrangierte Ballade, die bereits von den Beatles im berüchtgten Januar des Jahres 1969 geprobt, aber nicht weiterverfolgt wurde. Zu einer ersten Aufführung in Konzerten kam es 1979 während der letzten Wings-Tournee. Seitdem findet sich „Every Night“ immer mal wieder im Live-Repertoire McCartneys.

Gerüchten zufolge soll „Hot As Sun“ – ein exotisch anmutendes, bereits Ende der 50er Jahre geschriebenes Stück – der geplante Titelsong des späteren Beatles-Albums „Let It Be“ gewesen sein. Auch dieses harmlose Instrumental wurde von der Band zwar angespielt, doch ebenso links liegen gelassen. Eine weise Entscheidung. Umso überraschender ist es, dass im Rahmen der bereits erwähnten Wings-Tour von 1979 auch „Hot As Sun“ gespielt wurde. Weitaus interessanter ist der nahtlose Übergang zu „Glasses“. Durch das Reiben über den Rand von unterschiedlich gefüllten Weingläsern erzeugte McCartney eine Tonfolge, die, wenn auch nur sehr kurz, aber doch eine ganz außergewöhnliche Atmosphäre schafft. Am Ende dieses Klanggemäldes taucht das Fragment eines Songs auf, der nicht auf dem Cover erwähnt wird, aber sicher zu den mysteriösesten und zugleich interessantesten McCartney-Werken der Post-Beatles-Ära zählt: „Suicide“. Diese typische McCartney-Komposition mit nostalgischem Flair hat einen grotesken Hintergrund: Paul ließ Frank Sinatra ungefragt diesen Song zukommen. Dieser wiederum hielt das für einen Scherz und lehnte ab. McCartney dazu:  “I once sent Frank Sinatra a song called Suicide. thought it was quite a good one – but apparently he thought I was taking the mickey out of him and he rejected it.”

Die fragile Ballade „Junk“ ist das neben „Maybe I’m Amazed“ das wohl beste Stück des Albums. Der Song entstand schon im März 1968, als sich die Beatles im Meditationscenter des Maharishi Mahesh Yogi in Rishikesh/Indien aufhielten. Es existiert eine in George Harrisons Haus in Esher aufgenomme Demofassung aus dem Pool der potenziellen Songs für das „Weiße Album“. Zudem war „Junk“ auch während der „Let It Be“-Sessions vertreten, doch erst McCartney selbst stellte dieses Stück fertig, dass auf „McCartney“ auch in einer Instrumentalfassung enthalten ist. Mit „Man We Was Lonely“ geht das Niveau wieder bergab. Nur der Mittelteil erreicht wieder annähernd die Qualität, die eines Songschmieds vom Schlage Paul McCartneys würdig ist:

„I used to ride on my fast city line
Singing songs that I thought were mine alone, (alone) alone.
Now, let me lie with my love for the time
I am home, (home) home, (home) home.“

„Oo You“ ist eine erdige, basslastige Angelegenheit und hat einen packenden Live-Charakter. Vom Gefühl her kann man „Valentine Day“, „Oo You“ und auch „Momma Miss America“ einheitlich einer solchen Gruppe zuordnen. „Momma Miss America“, ein weiteres Instrumentalstück, ist zweigeteilt: Der erste Abschnitt basiert auf einer dominanten Bassfigur während ab 1:58 Min. die Sologitarre erneut das Leitinstrument ist, bevor mächtige Klavierakkorde eine weitere interessante Klangfarbe hinzufügen. Von allen älteren Stücken auf „McCartney“ haben sich die Beatles am intensivsten mit „Teddy Boy“ auseinandergesetzt. Dies ist ein Song mit einem typischen erzählenden, aber nicht besonders originellen McCartney-Text. Ob es nun Eleanor Rigby, Desmond, Rocky Racoon oder Maxwell Edison sind: Teddy Boy ist eine weitere Phantasie-Figur McCartneys. George Harrison und John Lennon konnten nie richtig verstehen, wie man darüber Songs schreiben kann. Ihre Texte waren in den meisten Fällen persönlicher. Lennon machte während der Beatles-Einspielung von „Teddy Boy“ sein Missfallen mehr als deutlich, als er McCartneys Gesang spontan und spöttisch mit einem Ringelrein-Text begleitete. Doch auch McCartney höchstpersönlich konnte nicht anders, als nach diesem witzigen Lennon-Einfall ins Gelächter einzustimmen. Hier Johns Einsatz:

„Take your partners
And dosi-do
Hold them tight
And don’t let go
When got it, jump up!

Bei  „Maybe I’m Amazed“ kann man vom ersten klassischen Solo-Song McCartneys sprechen. Und wie eingangs bereits erwähnt, ist es wahrscheinlich der beste seiner gesamten Solo-Karriere. Das am Piano geschriebene Stück wurde seinerzeit unglaublich oft im Radio gespielt, doch McCartney veröffentlichte den Song erst im Jahre 1976 als Single, ausgekoppelt aus dem Livealbum „Wings Over America“.  Bei diesem Lied stimmt einfach alles:  Ein schönes Hammondorgel-Intro, das dann dem Klavier als Leitinstrument Platz macht,  leidenschaftlicher Gesang und ein exzellentes Gitarrensolo. Im Text bekennt Paul nicht nur seine Liebe zu Linda, sondern unterstreicht auch noch ihre Bedeutung, ihm in der schwierigen Zeit der sich andeutenden Beatles-Trennung und beginnenden völlig neuen Lebensphase beizustehen:

„Maybe I’m amazed at the way you love me all the time
Maybe I’m afraid of the way I love you
Maybe I’m amazed at the the way you pulled me out of time
And hung me on a line
Maybe I’m amazed at the way I really need you
Maybe I’m a man and maybe I’m a lonely man
Who’s in the middle of something
That he doesn’t really understand.“

Einen Abschluss findet „McCartney“ mit dem mittlerweile sechsten Instrumentalstück dieses Albums: „Kreen-Akrore“. Nicht unbedingt ein glorreiches Finale, aber allemal ein ungewöhnliches McCartney-Stück. Er ließ sich durch eine Fernsehdokumentation über die brasilianischen Kreen-Akrore-Indianer dazu inspirieren. Und in der Tat hört man in diesem atmosphärischen Song einiges, was daran erinnert: wilde Trommelei, allerlei seltsame Geräusche, heftiges Atmen (offensichtlich eine Jagd durch den Dschungel), ritualmäßige Gesänge usw.  Paul und Linda entfachten im Studio sogar ein Feuer, verwendeten diesen Soundeffekt aber dann doch nicht.

„McCartney“ ist gewissermaßen eine halbgare Sache. Einerseits unfertige, schlichte oder eher private Songs und auf der anderen Seite wenige glanzvolle Stücke, die fast ein bisschen wie Fremdkörper wirkten. Doch „McCartney“ landete ungeachtet dessen binnen kürzester Zeit in den USA auf Platz 1 und in England auf Platz 2 der Albumcharts. 1987 erschien die Platte erstmals auf CD und wurde im Jahr 1993 im Rahmen der „Paul McCartney Collection“ remastered. Darüber hinaus gibt es von DCC Compact Classics eine 24 Karat vergoldete CD dieses Albums. Heute gewinnen die frühen McCartney- bzw. Wings-Alben immer mehr an Respekt und Wertschätzung. Früher war das eher uncool. Die schwachen Anteile von „McCartney“ sehen heute viele Zeitgenossen ausgeglichen durch den reizvollen organischen und warmen Gesamtsound des Albums.

Auf der Albumrückseite findet sich eine der schönsten Privataufnahmen, die die gelernte Fotografin Linda von ihrem Mann je gemacht hat. Sie zeigt Paul, der seine mehr oder weniger gerade geborene Tochter Mary in seiner Jacke vor dem Wind beschützt und wärmt. Dieses Foto ging um die Welt und gerade 2006 griffen Tom Cruise und Katie Holmes diese Idee wieder auf, als sie ihre gemeinsame Tochter Suri der Öffentlichkeit präsentierten.

Anspieltipps:
Maybe I’m Amazed / Junk / Every Night

Bewertung:

Pressestimmen:
„Excitement is not a word for this LP, warmth and happiness are.“    – New Musical Express, 18. April 1970

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