1973 – „Red Rose Speedway“

Red Rose Speedway

Veröffentlicht:  04. Mai 1973
LP: Apple 1C 062 – 05311 (Deutschland)
CD: EMI 0777 7 89238 2 4 (Digitally Remastered)

Titel:
Big Barn Bed / My Love / Get On The Right Thing / One More Kiss / Little Lamb Dragonfly / Single Pigeon / When The Night / Loup (1st Indian On The Moon) / Medley: Hold Me Tight, Lazy Dynamite, Hands Of Love
Bonus Tracks auf der remasterten CD: C Moon / Hi Hi Hi / The Mess / I Lie Around

Das Jahr 1972 beschäftigte die Wings mit zwei zentralen Aufgaben: Zunächst wollte sich die Band dem Live-Publikum vorstellen. Dazu musste die Besetzung um einen Leadgitarristen erweitert werden. Auf Denny Laines Empfehlung hin wurde Anfang 1972 Henry McCullough verpflichtet, der zuvor in Joe Cockers Grease Band gespielt hatte. Somit gehörte neben einem ehemaligen Beatle, einem Ex-Moody Blues nun also auch noch ein Woodstock-Veteran zu den Wings. Das hört sich imposant an, doch die Wings waren noch lange keine homogene Einheit. Schon im Februar 1972 ging man auf Tour, doch nicht etwa durch die großen Arenen, sondern durch ein gutes Dutzend Universitäten Großbritanniens. Mit nichts weiter als einem Bus unterwegs klopfte man spontan an und erkundigte sich, ob es genehm sei, Paul McCartney und die Wings auftreten zu lassen. Ohne Zweifel eine typische Idee des Traditionalisten Paul McCartney, der hiermit sicherlich auch die Anfangszeit der Beatles heraufbeschwören wollte, als man mit einem klapprigen Kleinbus durch Schottland tourte oder sich für erste armseligen Gastspiele nach Hamburg begab. Halbwegs eingespielt unternahmen die Wings im Sommer des selben Jahres eine Europatournee mit 25 Konzerten; beginnend in Châteauvallon (Frankreich) und endend in West-Berlin (weitere Informationen dazu irgendwann in der Live-Chronik).

Aber schon unmittelbar nach Beendigung der Universitäten-Tour begaben sich die Wings ins Studio um am kommenden Album zu arbeiten. Die Aufnahmen zogen sich von März bis Dezember 1972 hin, da sie ja auch in erheblichem Maße durch die Konzertverpflichtungen unterbrochen werden mussten. Am Ende war genug Material beisammen um ein Doppelalbum veröffentlichen zu können, doch es war schlau, sich auf eine Einzel-LP zu beschränken. Für ein überzeugendes Doppelalbum hätte es freilich nicht gereicht, doch der Vorgänger „Wings Wild Life“ wurde deutlich übertroffen.

Doch bevor das Album im Mai 1973 in die Läden kam, erschienen zwei weitere Singles – auf der remasterten CD sind drei Songs davon als Bonus-Tracks enthalten: „Hi Hi Hi / C Moon“ (Dezember 1972) sowie „My Love / The Mess“. „Hi Hi Hi“ ereilte das gleiche Schicksal wie zuvor „Give Ireland Back To The Irish“: Es wurde mit einem Bann der BBC belegt. Begründet wurde das damit, dass der Text auf Drogen und Sex verweisen würde:

„We’re gonna get hi hi hi
With the music on.
(…)
I want to lie on the bed,
Get you ready for my polygon.
I’m gonna do it to you, gonna do it,
Sweet banana, you’ve never been done.
Yes, I go like a rabbit, gonna grab it,
Gonna do it ‚til the night is done.“

Angesichts der mitunter sehr bedenklichen Texte, die gegenwärtig im HipHop alltäglich sind, mutete die Reaktion der BBC heute lächerlich an. Es war aber Zensur und Zensur verschafft Öffentlichkeit. Gleichwohl braucht es mehr als das, um in den Charts die vorderen Plätze zu belegen. Ganz im Gegensatz zu „Give Ireland Back To The Irish“ ist „Hi Hi Hi“ ein eingängiger kleiner Rocker, der in der musikalischen Tradition von „Get Back“ steht. Auf diese Weise erreichte die Single Platz 5 der englischen Charts. „C Moon“ war die Rückseite einer so genannte Single „Double A-Side“, d.h. zweier gleichberechtigter Titel. Die Leidenschaft der McCartneys für Reggae hat auch auf „C Moon“ abgefärbt. Der musikalisch harmlose Titel geht sofort ins Ohr und war auch damals in der Publikumsgunst leicht vor „Hi Hi Hi“ (dagegen kam „Hi Hi Hi“ bei Konzerten besser an). Interessanterweise rotierten die Wings für diese Aufnahme an ihren Instrumenten, so spielten z.B. Denny Seiwell den Bass und Horn und Henry McCullough das Schlagzeug.

Die im März 1973 veröffentlichte Single „My Love“ sollte Appetit machen auf „Red Rose Speedway“. Und in der Tat gelang Paul hiermit der erste große Wurf nach seiner Zeit mit den Beatles. „My Love“ erklomm in der Heimat zwar nur Platz 9, blieb in den USA jedoch vier Wochen lang die Nummer Eins. Der populäre und recht häufig gecoverte Song enthält so gut wie alle Trademarks der klassischen, romantischen McCartney-Ballade und ist nach „Maybe I’m Amazed“ das zweite an Linda gerichtete Liebeslied (ohne allerdings das Niveau des Letzteren zu erreichen). Produktionstechnisch ist „My Love“ wie auch manche Teile des Albums ein wenig zu glatt und überladen geworden. Ein echtes Highlight ist jedoch das von Henry McCullough gespielte einfühlsame Gitarrensolo. McCartney hatte recht klare Vorstellungen vom Arrangement. Doch McCullough bat darum, ein eigenes, improvisiertes Solo zu spielen und war recht überrascht, dass McCartney dies nicht nur zuließ, sondern auch diese in einem Take eingespielte Aufnahme für das Album übernahm. Die Single-Rückseite „The Mess“ entstand während der zurückliegenden Europatour in Den Haag (21. August 1972). Eine nette Rocknummer, die allerdings für die offizielle Veröffentlichung massiv nachbearbeitet wurde – insbesondere Gesang und Laufzeit des Songs waren hiervon betroffen. Nichtsdestotrotz ist „The Mess“ als Bonus Track eine lohnenswerte Ergänzung.

„Big Barn Bed“ eröffnet das Album. Aufmerksame Hörer werden bei den Zeilen „Who’s that coming ‚round that corner / Who’s that coming ‚round that bend“ aufhorchen. Die gleiche Melodie und der gleiche Text waren bereits 1971 auf „Ram On“ zu hören. Nun ist ein Midtempo-Rocksong daraus geworden. „Big Barn Bed“ hat erstmals etwas, was man als den „Wings-Sound“ bezeichnen (aber schwer erklären) kann; auffallend ist hierbei der betonte Harmoniegesang. Bei angestrengter Textinterpretation könnte man bei „Big Barn Bed“ eine Lobpreisung des Landlebens (Schlafen im Heu der großen Scheune) vermuten. Ein beständig pulsierender Bass, vereinzelte Gitarrenakkorde und Texteinschübe bilden die Einleitung von „Get On The Right Thing“, bevor das Tempo plötzlich anzieht und relativ harmlose bluesrock-ähnliche Töne anschlägt. Die interessante Songstruktur und die erdige Grundstimmung stehen auf der Haben-Seite, nur der Harmoniegesang – aus dem besonders Linda heraussticht – wirkt heute etwas antiquiert. „One More Kiss“, eine simple und sentimentale Country-Ballade, macht schnell Platz für einen der ansprechendsten Songs des Albums: „Little Lamb Dragonfly“, ein „Ram“-Outtake, der ursprünglich für das „Rupert The Bear“-Trickfilmprojekt vorgesehen war. Auch hier liegt wieder ein komplexes Arrangement vor, was vermutlich darauf zurückzuführen ist, dass zwei unfertige Songs zu einer Komposition zusammengeführt wurden. Ein besonders reizvoller melodischer Kontrast ist das erneute Auftauchen des „Little Lamb“-Teils kurz vor Schluss. Die Laufzeit von „Little Lamb Dragonfly“ beträgt 6:20 Minuten. Doch hier wird nichts gestreckt, die Zeit wird gebraucht, damit der Titel zur vollen Entfaltung kommen kann. Ohne Zweifel ist „Little Lamb Dragonfly“ der Song dieses Albums, von dem am meisten Charme ausgeht.

Weiter geht es mit „Single Pigeon“, einem kleinen, aber feinen Rohdiamanten des frühen Wings-Oevres. Der von McCartneys angenehmer Stimme und seinem Pianospiel getragene Titel überzeugt vor allem durch seine Ungezwungenheit UND dem dezenten Harmoniegesang Lindas. Wenn dann im Mittelteil auch noch die Bläser-Sektion einsteigt fühlt man sich durchaus an alte Beatles-Qualitäten erinnert. Selbst der Text hebt sich spürbar über viele Oberflächlichkeiten dieser musikalischen Phase McCartneys:

„Single pigeon, through the railings
Did she throw you out?
Sunday morning fight about Saturday night

Well, single seagull, gliding over
Regent’s park canal
Do you need a pal for a minute or two, you do?“

Leider schließt sich an die vorangegangen zwei Highlights das neben „One More Kiss“ wohl schwächste Stück des Albums an: „When The Night“. Allenfalls das knapp 20 Sekunden währende Intro vermag zu gefallen. Das ständig wiederholte Hauptthema braucht nicht lange, um dem Hörer auf die Nerven zu gehen. McCartneys Gesang kommt der Parodie eines abgehalfterten Las Vegas-Crooners nahe und man fragt sich, ob er hier wirklich ganz bei Sinnen war. Mit „Loup (1st Indian On The Moon)“ folgt ein atmosphärisch dichtes Instrumentalstück, das ähnlich exotisch wie „Kreen Akrore“ vom ersten Soloalbum („McCartney“) wirkt. „Loup“ besteht quasi nur aus Variationen eines Themas, lässt dabei allerdings keine Langeweile aufkommen. Nicht zuletzt deshalb, weil die verschiedenen Parts des Stücks äußerst spannend miteinander verwoben sind. Dominante Instrumente sind hier Bass und Moog Synthesizer.

Ein Medley, bestehend aus „Hold Me Tight“, „Lazy Dynamite“, „Hands Of Love“ und „Power Cut“, bildet das Finale von „Red Rose Speedway“. Hoffnungen auf ein Medley, das dem auf der B-Seite von „Abbey Road“ (1969) ebenbürtig sein könnte, erfüllen sich nicht. Dennoch bieten sich hier knapp über 11 Minuten überwiegend kurzweiliges Hörvergnügen. „Hold Me Tight“ hat mit seinem äußerst dürftigen Text eine denkbar schlechte Ausgangsposition, doch Gesang und Instrumentierung sind variantenreich und ebnen mit leichter Hand den Weg für „Lazy Dynamite“. Leichte Country-Anklänge (Mundharmonika) zu einer etwas süßlichen Melodie, die nur im Ansatz überzeugen kann, aber durch eine kurzes, aber schönes Gitarrensolo Henry McCulloughs bereichert wird. „Hands Of Love“ zieht das Tempo wieder an. Dieser Song war scheinbar nicht ganz ernst gemeint und enthält ein kauziges Bläsersolo, das Paul McCartney mit seiner gedoppelten Stimme imitiert [diese Idee nimmt Paul wieder auf, als er mit bzw. für Ringo an „You’re Sixteen“ (1973) arbeitet]. Der Schlusstitel ist dagegen wieder etwas verhaltener. „Power Cut“ ist eine äußerst simple McCartney Komposition, die als Solo den glöckchenhaften Klang des Celesta (ein 1886 patentiertes Tasteninstrument) enthält. Schließlich nehmen McCulloughs und Laines Sologitarren das Hauptthema von „Lazy Dynamite“ wieder auf und bereiten dem Medley auf diese Weise einen gelungenen Schluss. Trotzdem sollte nicht verkannt werden, dass alle vier Medley-Songs unfertig und daher gewöhnlich wirken. Sie zählen ohne Zweifel zu McCartneys schwächeren Songs.

In den frühen 70er Jahren hat Paul McCartney des Öfteren nachgewiesen, dass er sich auch gerne mal vom US-amerikanischen Country-Sound inspirieren lässt. Bei „I Lie Around“ ist das nicht anders. Dieser letzte, noch nicht besprochene Bonustitel von „Red Rose Speedway“ beginnt und endet mit Geräuschen, die möglicherweise auf dem Gelände der Farm in Schottland aufgenommen wurden: gut gelaunte Stimmen, Vogelgezwitscher, ein bellender Hund und das Geräusch, das man hört, wenn jemand ins Wasser springt. In den folgenden Strophen überlässt der Autor McCartney hingegen Denny Laine weitgehend den Leadgesang. Im Refrain ist „I Lie Around“ deutlich rockiger, kehrt wieder zum Country-Blues zurück und klingt entspannt aus.

Das Cover der LP-Version von „Red Rose Speedway“ ist aufwändig gestaltet. Im Innern des Klappcovers befindet sich ein 12-seitiges Booklet im LP-Format. Darin findet sich eine Vielzahl von 1972er Konzertfotos, Songtexte, Einzelporträts der Bandmitglieder (inkl. Angabe der hier gespielten Instrumente) und nicht einige Illustrationen von Eduardo Paolozzi. Der 2005 verstorbene Pop-Art-Künstler war auch später noch einmal für McCartneys Coverdesign zuständig (vgl. „Off The Ground“, 1993) und hat seinen festen  Platz in der Beatles-Geschichte: In den frühen 60er Jahren war er Gastprofessor an der Hamburger Kunsthochschule und betreute zu dieser Zeit den ersten Beatles-Bassisten Stuart Sutcliffe. Bemerkenswert ist auch eine an Stevie Wonder gerichtete Botschaft („We love ya baby“), die in Braille-Schrift auf die Rückseite des Covers geprägt wurde. Nach den Erfahrungen mit „Wings Wild Life“ entschied man sich, auf die Vorderseite des Covers ausschließlich ein Foto Paul McCartneys zu setzen und auf die Rückseite „Paul McCartney and Wings“ zu drucken um so ein größeres Publikum anzusprechen. Die CD-Erstauflage von 1987 sparte bei den Bonus-Tracks „Hi Hi Hi“ und „C Moon“ aus und fügte statt dessen „Country Dreamer“ hinzu.

Mit „Red Rose Speedway“ konnte Paul McCartney nach „Ram“ wieder einen größeren Erfolg verbuchen. In den USA blieb das Album drei Wochen lang auf Platz 1 und in Großbritannien wurde am 10. Mai 1973 die höchste Notierung mit Platz 5 erreicht.

Anspieltipps:

My Love / Little Lamb Dragonfly / Single Pigeon

Bewertung:

Pressestimmen:

 „(…) main criticism (…) is the lack of a real rocker (but) it’s the best thing McCartney’s done since the Great Demise.“    – New Musical Express, 28. April 1973

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